Mittwoch, 28. Mai 2014

Parallelwelt - Leseprobe Kapitel 1

Kapitel 1


Ein erwartungsvoller Schauer rann sein Rückgrat hinab. Vielleicht war es aber auch nur die Müdigkeit nach der langen Reise. Oder die Kälte. Die Luft war frisch, beißender als in Hamburg. Der Riemen seines schweren Rucksacks schnitt ihm in die Schulter. Leif fühlte sich seltsam aufgekratzt. Lächerlich, eigentlich. Als ob er noch nie verreist wäre. Aber das hier war anders. Es war kein Urlaub. Diese Reise markierte das baldige Ende seines Studiums. Und den Beginn von etwas Neuem. Auch, wenn er keine Ahnung hatte, was genau er sich unter dem Neuen vorstellen sollte.


»Scheiße, ist das kalt hier!«
Neben ihm zog Paul fröstelnd die Schultern empor. Leif grinste amüsiert. Paul hatte schon in Deutschland über die niedrigen Temperaturen geklagt und Leif fragte sich, ob sein Kommilitone die Zeit in Norwegen wohl überstehen würde.
»Stell dich nicht so an. Weichei«, kam es von Steffen, der ihre kleine Gruppe komplettierte.
Er war ein untersetzter Typ, bei dem schon erste Geheimratsecken zu sehen waren, obwohl er erst Mitte zwanzig war. Und offensichtlich war Steffen der Kälte gegenüber unempfindlicher als Paul, der Hungerhaken.
»Selber Weichei!«, schnaubte Paul, wühlte in seinem Rucksack, zog eine Mütze heraus und stülpte sie sich über den Kopf.
Leif musste schmunzeln. Mit der Mütze sah Paul dank seiner Größe possierlich aus. Doch eher würde Leif sich die Zunge abbeißen, bevor er ihm so etwas sagte. Nicht etwa, weil er versteckte Gefühle für ihn hatte. Aber Leif kannte Paul gut genug, um zu wissen, dass sich sein Kumpel auf seine eigene Art an ihm rächen würde. Immerhin hatte Paul nun ausreichend Zeit dafür.
Wenn das Wetter in den Bergen nördlich von Dombås mitspielte, würden sie die nächsten zwei Wochen in der norwegischen Wildnis verbringen und Proben sammeln. Sie alle standen am Ende ihres Biologiestudiums und hatten sich entschlossen, den praktischen Teil ihrer Abschlussarbeit über den Speilhav zu schreiben, einen See, der ein eigenes, abgeschiedenes Biotop bildete. Dort wollten sie Hinweise auf die Folgen des Klimawandels sammeln.
Ihre Universität hatte gute Beziehungen zu einem halbstaatlichen Institut der Norweger, das solche Forschungen unterstützte. Gute drei Stunden Autofahrt von Dombås entfernt erwartete sie eine Hütte des Instituts, die mit den notwendigsten Laborgegenständen ausgestattet war, sodass sie ihre Proben katalogisieren und archivieren konnten.
Und eigentlich hätte sie ein Mitarbeiter des Instituts hier am Bahnhof abholen sollen. Leif blickte nervös auf die Uhr. Sie standen seit fast zwanzig Minuten herum. Der Bahnhof von Dombås war winzig. Er umfasste kaum mehr als ein hölzernes Gebäude, in dem man die Fahrkarten erstehen konnte, und zwei nun verwaiste Gleise. Die wenigen Fahrgäste, die mit ihnen ausgestiegen waren, hatten schnell das Weite gesucht. Der Wind pfiff ihnen unangenehm um die Ohren.
»Ich glaube, da kommt er«, sagte Steffen hörbar erleichtert.
Ein dunkelblauer Kombi rumpelte auf den ungeteerten Parkplatz an der Kopfseite des Bahnhofsgebäudes. Ein Skikoffer zierte sein Dach und Leif fragte sich, ob die Sommer hier so kurz waren, dass es sich nicht lohnte, das Ding abzumontieren. Der Mann, der ihm entstieg, musste Jan Harkonsen sein, ein wissenschaftlicher Mitarbeiter des norwegischen Instituts, der sie für die Zeit ihres Aufenthalts betreuen würde.
Leif war der ältere Mann auf den ersten Blick sympathisch. Tiefe Furchen zogen sich durch sein gebräuntes Gesicht, seine hellgrünen Augen leuchteten darin.
»Sorry, ik bin en weinig speit«, sagte Harkonsen, als er einem nach dem anderen freundlich die Hand schüttelte.
Durch die ungewöhnliche Aussprache erhielten seine Worte etwas Schrulliges, was Leif und seine Freunde schmunzeln ließ. Paul, schon immer der Charmeur unter ihnen, versicherte Harkonsen, dass sie gerade erst angekommen waren.
Lügner, dachte Leif vergnügt.
Sie luden ihre Rucksäcke in den Kofferraum und falteten sich in den alten Ford, dessen Federung unter dem Gewicht der vier Männer und ihres Gepäcks deutlich nachgab. Im Auto roch es nach feuchten Polstern, verblasstem Rauch und Erde. Ihr Small Talk stockte zunächst, da Harkonsen nur wenige Floskeln auf Deutsch beherrschte. Deshalb hielten sie sich bald an Englisch, was alle vier leidlich beherrschten, und so wurde die Fahrt durchaus unterhaltsam.
Sie verließen Dombås, das laut Harkonsen nicht viel mehr war als eine Straßenkreuzung mit einem überdimensionierten Supermarkt und einem gigantischen Parkplatz. Sobald sie den Ort hinter sich gelassen hatten, prägten grüne Täler das Bild, in denen sich silberne Flüsse schlängelten, umgeben von kargen Hügeln und Bergen, deren Spitzen und Pässe noch von Schnee bedeckt waren. Ein stetiger Wind zauste die niedrigen Birken. Bald schon verließ Harkonsen die gut ausgebaute Landstraße und bog auf eine bucklige Schotterpiste ein.


Gut drei Stunden später kletterten sie reichlich durchgeschüttelt aus dem Auto. Frischer Wind blies Leif ins Gesicht und er streckte wohlig seine Beine. Er war nicht gerade klein und das viele Sitzen im Flugzeug, im Zug und zuletzt in dem klapprigen Kombi hatte ihn angestrengt.
Vor ihm erstreckte sich leicht abfallend eine mit Birken und niedrigen Büschen durchsetzte Wiese bis zum Ufer des Sees Svartdalsvatnet. Die Wasseroberfläche war matt und vom Wind aufgeraut. Wie ein graues Tuch, das ein Riese zwischen die sie umgebenden Hügel und Berge gebreitet hatte, lag der See da und vermittelte Leif einen ersten Eindruck von der Einsamkeit, in der er die nächsten Wochen verbringen würde. Die letzte Ansiedlung, die sie passiert hatten, lag mehrere Kilometer entfernt.
Auf dem Grundstück, das der Wildnis abgetrotzt worden war, befanden sich drei Holzhütten: eine größere, die wohl die Wohnhütte war, ein Schuppen und ein Bootshaus am Ufer des Sees. Es waren die einzigen Gebäude weit und breit.
Ein aufgeregtes Kribbeln breitete sich in Leifs Magen aus. Er brannte darauf, die Wohnhütte zu erkunden, aus deren Schornstein sich Rauch kräuselte. Wie Harkonsen erklärte, hatte das dunkle Holzhaus mit dem Grasdach früher abenteuerlustigen Urlaubern als Basiscamp für ihre Wanderungen gedient, bis das Institut sie vor ein paar Jahren erworben hatte, nachdem der weiter oben in den Bergen gelegene Speilhav zum Gegenstand eines längeren Forschungsprojektes geworden war.
Leif wusste nicht, ob es den anderen beiden auch so erging, aber ihm bescherte die Aussicht, mehrere Wochen fernab jeglicher Zivilisation in dieser einfachen Hütte zu leben ein Schaudern, das sowohl aus Abenteuerlust als auch aus einem leisen Unbehagen gespeist wurde.
Sie wuchteten ihre Rucksäcke aus dem Kofferraum und holten danach die von Harkonsen besorgten Einkäufe aus dem Skikoffer, um sie in einer Kühlkammer unter einer Bodenluke in der Wohnhütte zu verstauen. Alles in allem war die Hütte sehr rustikal und einfach, aber gemütlich eingerichtet. Sie bestand aus drei winzigen Zimmern mit Stockbetten und einer Stube, die in der Mitte durch einen Kamin in zwei Bereiche unterteilt wurde. Auf der einen Seite befand sich ein größerer gusseiserner Herd sowie ein alter Holztisch mit Stühlen, auf der anderen Seite gruppierten sich ein abgenutztes Sofa und zwei Sessel um den Kamin. An der Wand über dem Sofa thronte ein ausgestopfter Greifvogel, der aus gelb glänzenden Glasaugen zu ihnen herunterstierte. Irgendwie morbid, fand Leif.
Tief sog er die etwas abgestandene Luft ein. Jemand hatte ein Feuer im Kamin entzündet, das bereits weiter heruntergebrannt war. Es knackte leise und ab und an stoben Funken empor. An den hölzernen Wänden hingen gerahmte Fotos, die frühere Forschungsteams zeigten. Paul trat neben ihn und musterte die Bilder neugierig.
»Scheint manchmal ganz schön nass zu werden hier draußen.«
Tatsächlich zeigten einige der Fotos Personen in durchweichter Regenkleidung und mit hohen Gummistiefeln an den Füßen. Junge Männer und Frauen waren zu sehen, womöglich Studenten oder Doktoranden. Auf einem Foto konnte Leif Harkonsen erkennen. Regen tropfte von der breiten Krempe eines Hutes hinab, der Leif an einen altmodischen Fischerhut erinnerte. Dennoch strahlte Harkonsen in die Kamera und hielt stolz ein Glasröhrchen mit einer Wasserprobe empor.
»Ich frage mich, wie die Zimmeraufteilung aussieht, wenn solche Gruppen hier sind«, meinte Paul grinsend und deutete auf ein Foto, auf dem drei Männer und drei junge Frauen zu sehen waren, die in eine ausgelassene Rangelei verwickelt waren. Ein umgestürzter Korb voller orangeroter Beeren und das gelblich verschmierte Gesicht eines blonden Studenten erzählten eine Sommergeschichte, bei der auch Leif schmunzeln musste.
Dann fiel sein Blick auf eine siebte Person im Hintergrund des Bildes. Die Gestalt des Mannes war verschwommen, er stand aufgerichtet und blickte zu den sich balgenden Studenten. Obwohl seine Gesichtszüge nicht deutlich zu erkennen waren, überzog Leifs Unterarme mit einem Mal eine Gänsehaut. Die Haltung des Mannes wirkte ernst, fast abwehrend, sein Gesicht war eine Landschaft aus markanten Schatten. Er wirkte so deplatziert, als sei er in das ansonsten fröhliche Bild hineinmontiert worden.
Was Leif aber wirklich beunruhigte, war das Gefühl, den Mann auf dem Foto zu kennen. Irgendetwas, vielleicht die Haltung seines Kopfes oder die verschwommene Linie seines Kinns kitzelten eine Erinnerung in Leif, die er nicht zu fassen bekam.
»Obwohl, mit so 'nem Mädel würd ich schon gern eine Koje teilen«, unterbrach Paul sein Grübeln.
Er deutete auf eine Frau mit strahlend blauen Augen und so vielen Sommersprossen im Gesicht, dass Leif sich fragte, ob es sich um Schlammsprenkel handelte.
Leif stieß Paul mit dem Ellenbogen an, was diesem ein dreckiges Kichern entlockte. Paul war ein notorischer Schwerenöter und spielte sein gutes Aussehen gnadenlos bei jeder sich bietenden Gelegenheit aus.
»Mann, du bist echt fixiert.«
»Kann ja nicht jeder so brav sein wie du«, stichelte Paul.
Leif zeigte ihm den Mittelfinger.
»Danke, ich dich auch«, meinte Paul daraufhin versöhnlich. Dann seufzte er schwer.
»Gott, ich glaube, wenn wir hier rauskommen, haben wir Schwimmhäute zwischen den Fingern.«
Es war gut möglich, dass Paul mit dieser Befürchtung recht behalten würde. Im Moment war Hochsommer, die einzige Zeit, in der die Berge um den Speilhav so schneefrei waren, dass sie den See von hier aus gut erreichen konnten. Es gab keine Wege, geschweige denn Straßen, die bis zum See hinaufführten. Ein mehrstündiger Fußmarsch über Geröllfelder, durch Bergbäche und sumpfige Wildnis, sowie einige heftigere Anstiege führten in die Talmulde, deren Grund vom Speilhav bedeckt war. Hin- und Rückweg ließen sich an einem Tag nicht bewältigen. Sie würden eine Nacht vor Ort kampieren und ihre Proben am nächsten Tag zurückbringen und auswerten. Wie oft sie die Tour zum See unternehmen mussten, hing von ihrem Glück beim Finden der Proben einerseits und vom Wetter andererseits ab. Und das war hier oben selbst im Sommer selten stabil.
Ein Klopfen an der Scheibe riss Leif und Paul aus dem Studium der Fotos. Harkonsen bedeutete ihnen, nach draußen zu kommen. Gemeinsam mit Steffen wartete er etwas abseits der Hütte neben dem Schuppen.
»Ich zeige euch am besten gleich noch das Labor, damit ihr wisst, mit welchen Geräten ihr hier arbeiten könnt. Außerdem gibt es, was das Leben hier in der Wildnis angeht, noch Einiges zu beachten. Nicht wild fischen, keinen Müll wegwerfen, auf wilde Tiere achten und so weiter«, sagte Harkonsen und gestikulierte dabei in Richtung der Berge.
Leif bemerkte, wie Paul sich bei den Worten wilde Tiere sichtlich anspannte.
»Stadtkind«, raunte er ihm zu und kassierte dafür einen Knuff.
Harkonsen ließ sich von dem Gekabbel der Studenten nicht stören.
»Der Wildhüter wird euch nachher alles noch mal genauer erklären. Er ist ein etwas wortkarger Kerl, aber ansonsten sehr nett. Er begleitet unsere Touren hoch zum See und kümmert sich auch um die Verpflegung hier unten. Er wohnt einige Kilometer von hier, schaut aber regelmäßig vorbei. Wir haben hier oben keinen Empfang für Mobiltelefone, aber in der Hütte liegen drei Funkgeräte. Könnt ihr mit so was umgehen?«
Leif, Paul und Steffen schüttelten einvernehmlich den Kopf.
»Erinnert ihn daran, euch die Bedienung zu erklären.« Harkonsen reckte den Hals, um in Richtung des Zuwegs zur Hütte zu blicken. »Eigentlich sollte er schon längst wieder – ah, wenn man vom Teufel spricht!«
Harkonsen wechselte vom Englischen ins Norwegische und rief dem Mann, der nun auf sie zukam, freundlich zu. Der Wildhüter war groß, er trug ausgebeulte Cargohosen und einen alten Militärparka über einem schwarzen Shirt, seine schweren Stiefel waren nass und schlammig. Ein Basecap verdeckte sein Gesicht und erst, nachdem Harkonsen ihn freundlich mit einem Handschlag begrüßt hatte, hob er den Kopf, sodass die nachmittägliche Sonne seine Augen in einem warmen Braun aufschimmern ließ.
Hätte Leif es nicht besser gewusst, hätte er geglaubt, er befände sich in seinem Traum. Ganz zu Beginn, an diesem Punkt, an dem das Eis unter ihm zitterte, schließlich nachgab und er fiel. Dichte Wimpern umkränzten die Augen des Mannes. Die Lippen waren schmal und hatten einen energischen Zug. Ein dunkler Bartschatten lag auf seinen Wangen. Obwohl Leif in das Gesicht eines Erwachsenen blickte, konnte er das Kind darin entdecken, das er einst gewesen war. Den Jungen, den Leif gekannt hatte.
»Sam«, würgte Leif den Namen hervor, den er viele Jahre nicht mehr ausgesprochen hatte.
In die Mimik des Wildhüters kam Bewegung. Erstaunen, dann Erkennen. Seine Augen wurden groß, seine Lippen öffneten sich leicht, doch kein Laut kam darüber.
Leifs Puls beschleunigte sich, seine Handflächen wurden feucht.
Das konnte nicht sein, das war unmöglich! So einen Zufall konnte es nicht geben! Einen Teil des Entsetzens, das ihn überkam, sah er im Blick des Wildhüters gespiegelt. Fassungslos beobachtete er, wie Sam schluckte, die Zähne fest aufeinanderpresste und offensichtlich um Beherrschung rang.
»Ihr kennt euch?«, fragte Harkonsen erstaunt.
Leif fühlte, wie die Blicke der Anwesenden zwischen ihnen hin und her huschten.
»Ja.«
Es war Samuels Stimme und es war sie wieder nicht. Sie erschien Leif rauer, als er sie in Erinnerung hatte.
»Wir waren Freunde«, presste Leif hervor.
»Wir waren Nachbarn«, sagte Sam im selben Moment.
Weder der eine noch der andere Begriff konnte fassen, was sie füreinander gewesen waren. Ja, sie hatten bereits seit ihrer Geburt nebeneinander gewohnt und Leif konnte sich an keinen Tag seiner Kindheit erinnern, an dem er Sam nicht als seinen Freund bezeichnet hätte. Dennoch standen sie nun wie Fremde voreinander und der Schmerz wütete heftig in Leifs Brust, als ob es nicht Jahre, sondern erst Tage her gewesen wäre, dass Sam ihn von sich gestoßen hatte.
Satzfetzen, lange verdrängt, aber nie vergessen, stiegen aus Leifs Erinnerung empor. Sie schmeckten bitter.

»Lass mich los.«
Samuels Hand, die Leifs Berührung abstreifte. Als hätte es die letzte Nacht nie gegeben. Als hätte es all die Jahre davor nicht gegeben. Leif verstand nicht. Verstand nicht, warum Sam so abweisend war. Seine sonst so warmen Augen musterten Leif mit kalter Wut. Dunkle Schatten hatten sich darunter gesammelt.
»Aber... warum... Sam!«, stotterte Leif.
»Es war ein Fehler. Alles. Vor allem...« Sam deutete auf Leif und das zerwühlte Bett hinter ihm.
Panik schnürte Leif die Kehle zu. Seine Augen brannten. Er schluckte schwer, blinzelte. Sein Entsetzen musste ihm ins Gesicht geschrieben sein, denn kurz schien die kalte Wut in Samuels Augen abzunehmen. Wärme blitzte in einem traurigen Lächeln auf.
»Vergiss einfach, was passiert ist, okay?«, sagte Sam leise, dann schnappte er sich seinen verschlissenen Rucksack, ging zur Tür und öffnete sie behutsam, als wolle er den Schlaf des Hauses in den frühen Morgenstunden nicht stören.
Er sah sich nicht mehr nach Leif um, noch sagte er ihm Lebewohl.

Es war das letzte Mal gewesen, dass er Sam gesehen hatte. Bis zu diesem Moment, da er so unvermittelt vor Leif stand. Groß und dunkel, ein wenig schäbig. Er stand etwas geduckt, als würde er den Kopf gerne zwischen die Schultern ziehen und sich unsichtbar machen. Verschwinden. Ja, das konnte er gut. Bastard.
Leif verstand nicht, was Sam hier machte. Es war aberwitzig, dass sie sich ausgerechnet hier trafen. Selbst, wenn er seiner Mutter, einer gebürtigen Norwegerin, zurück in ihre Heimat gefolgt war – musste Sam ausgerechnet hier in der Wildnis vor ihm stehen?
Es schmerzte und doch konnte Leif den Blick nicht von dem anderen Mann wenden. Sie waren annähernd gleich groß. Einige dunkle Strähnen stahlen sich unter dem verschlissenen Basecap hervor. Eine Schramme, halb verheilt, zierte sein Kinn. Der Ausdruck in seinen Augen glich dem eines wilden Tieres, das man in die Enge getrieben hatte und das nun die Zähne fletschte.
Leif wünschte sich weit fort. Seine Hände fühlten sich kalt an. Wo gerade noch Vorfreude geherrscht hatte, bildete sich nun ein schmerzhafter Knoten in seinem Magen. Erinnerungen drangen empor, ungefiltert, zu lange eingesperrt. Er kämpfte sie nieder, wollte nicht zurückkehren in seine Kindheit und Jugend, zurückkehren in eine Zeit, in der er Vertrauen gehabt hatte.
Ein unangenehmes Schweigen breitete sich aus. Leif starrte Sam an, bis seine aufwallende Wut ihn zwang, angestrengt auf das Grau des Sees zu blicken, während die anderen das Gespräch wieder aufnahmen, bemüht, keine erneute Stille aufkommen zu lassen. Er ballte die Fäuste an seinen Seiten.
Ja, er war wütend auf Sam, mehr jedoch auf sich selbst. Denn die Scham und das Entsetzen, die ihn bei Samuels Anblick überkamen, waren gänzlich unangebracht. Leif hatte geglaubt, es überwunden zu haben. Die Zurückweisung. Den Verlust. Wie es schien, hatte sich nur eine dünne Schorfschicht über die Wunde gelegt, die nun aufbrach.
Heraus quollen die aberwitzige Liebe eines Jungen zu seinem besten Freund, lange schlaflose Nächte voller Ungewissheit – und Fragen. Fragen, auf die er nie wirklich eine Antwort gefunden hatte.


Nachdem sie ihre Sachen in der Hütte verstaut hatten, unternahmen sie gemeinsam einen Spaziergang durch die Umgebung. Es war schön hier, einsam, aber selbst für Leifs Geschmack zu kalt. Paul hatte die Hände tief in den Taschen seiner Jacke vergraben und seinen Schal so hoch gewickelt, dass nur noch die Nasenspitze herausschaute. Harkonsen, Steffen und Sam hingegen schien der kalte Wind nichts auszumachen. Der Wildhüter ging ihnen voraus über morastige Wiesen, die durchsetzt waren mit Birken und Büschen. Fast schien es so, als beachte er sie nicht weiter. Doch wann immer jemand Hilfe benötigte, war Sam da.
Leif versuchte, sich auf die Umgebung zu konzentrieren, auf den unebenen Pfad vor sich, sprang über eine große Pfütze, verschätzte sich, landete mit einem Fuß im Morast und war froh um seine gut gefetteten Wanderstiefel. Er sah auf, fest davon überzeugt, dass Samuel seine Ungeschicklichkeit mit einem spöttischen Blick kommentieren würde – wie er es früher getan hätte. Doch Sam hatte ihm den Rücken zugewandt. Schweigend erklomm er eine Felsformation, während ihm die anderen mehr oder weniger sicher folgten.
Die Sicht von der Spitze der Felsen wäre großartig gewesen, hätten tief hängende Wolken nicht die Gipfel der sie umgebenden Berge verschlungen. Dennoch konnte Leif erkennen, dass auf einigen noch Schnee lag.
»Dort liegt der Speilhav«, erklärte Harkonsen und wies in Richtung einer Senke, die sich zwischen zwei Bergkuppen erstreckte. Leif fragte sich, wie weit es wohl bis dahin war. Auf den ersten Blick erschienen die Berge recht nah, aber die wilde Landschaft war sicher nicht leicht zu durchqueren. Vom Aufstieg in die Berge ganz zu schweigen.
Eine plötzliche Windbö pfiff ihnen um die Ohren und riss Sam fast das Basecap vom Kopf. Leifs Herz machte einen Satz, als er die dunkelbraunen Haarsträhnen im Wind tanzen sah, bis Sam sich mit einer abrupten Bewegung die Kappe zurück auf den Kopf drückte. Verärgert biss Leif die Zähne zusammen und musterte seine nassen Stiefel. Er fühlte sich beobachtet, widerstand jedoch dem Drang Sam anzusehen.
Dabei hatte er das Bild des anderen so genau vor seinem inneren Auge, als würde er ihn ohne Unterlass anstarren. Es überforderte Leif, seine Erinnerungen an seinen ehemaligen Freund mit dem schweigsamen Wildhüter in Einklang zu bringen.
Gedankenverloren folgte er den anderen und beteiligte sich nicht an ihren Gesprächen. Er erinnerte sich daran, wie es früher gewesen war, wenn er Sam das Schuljahr über nicht gesehen hatte. Wie er seiner Rückkehr aus dem Internat zu Beginn der Sommerferien entgegengefiebert hatte. Wie er all die kleinen Veränderungen an seinem besten Freund mit einem ängstlichen Gefühl in der Brust analysiert hatte. Denn jedes Mal war ihm Sam fremder vorgekommen. Nur, um ihn dann anzulächeln und alles Fremde damit unbedeutend erscheinen zu lassen. Was war Leif nur für ein Idiot gewesen. Ein verliebter Idiot. Nur, dass er lange nicht begriffen hatte. Sowohl das eine, als auch das andere.


Sommer 2003

Lange bevor der silberne Golf II zum Stehen kam, stand Leif bereits in der Einfahrt des kleinen Hauses, das Kari Wahlstrom seit drei Jahren bis auf wenige Wochen im Jahr alleine bewohnte. Das Haus war das Erbe ihres Mannes, ein geducktes Hexenhäuschen, an dem sich der Efeu seit Jahrzehnten emporarbeitete. Es war ein stetiger Kampf, den Samuels Mutter gegen das Grün ausfocht, damit es nicht die Fensteröffnungen zuwucherte. Bei Wahlstroms gab es wegen des Efeus viel mehr Käfer und Spinnen im Haus als üblich; eine Tatsache, die Sam mit Abscheu erfüllte.
Er mochte keine Spinnen und Leif hütete sich, ihn damit aufzuziehen. Ein kleiner Teil von ihm genoss es jedoch, wenn sich Sam, der sonst der Wildere von ihnen beiden war, hinter seinem Rücken versteckte. Natürlich hätte Sam nie zugegeben, dass er Angst hatte, doch Leif konnte dessen Unbehagen an den verspannten Schultern gut ablesen, wenn eine der dicken schwarzen Spinnen wieder einmal den Weg in Samuels Zimmer gefunden hatte.
In diesem Augenblick war es allerdings an Leif, angespannt zu sein. Seitdem Kari vor fast zwei Stunden weggefahren war, hatte Leif keine ruhige Minute mehr gehabt. Zappelig wie er war, hätte er sich normalerweise seine Laufschuhe geschnappt und sich so lange durch den Wald getrieben, bis er nichts anderes mehr wahrgenommen hätte als das Brennen in seinen Beinen, die Kraft, mit der seine Lungen die Luft einsogen und die herrliche Leere, die sich durch körperliche Erschöpfung in seinem Kopf ausbreitete.
Doch er hatte sich nicht von zu Hause entfernen wollen. Sein Herz klopfte hart in seiner Brust, fast so, als hätte es den Lauf durch den Wald doch gegeben. Es war Leif unangenehm, in der Einfahrt zu stehen. Wie ein Hund, der vor einem Supermarkt angebunden war und allen Personen, die an ihm vorbeikamen, sehnsüchtig entgegenfiepte.
Die Krönung der Peinlichkeit war die alte Semelsen gewesen, seine ehemalige Grundschullehrerin, die inzwischen pensioniert war und nur zwei Straßen weiter wohnte.
Sie hatte ihm im Vorbeifahren von ihrem monströsen Alu-Rad mit extra tiefem Einstieg aus zugewunken und gerufen: »Na, kommt er heute wieder?«
Verdammt. War es ihm so sehr anzusehen? Ja, natürlich war es das, schalt er sich in Gedanken. Der halbe Ort wusste wahrscheinlich schon, dass er sich seit geschlagenen zwanzig Minuten in der Einfahrt herumdrückte. Dabei wusste er mit Sicherheit, dass Samuels Mutter nicht vor drei zurückkehren würde. So wie die letzten Male auch.
Die Gedanken an sein peinliches Verhalten wurden weggefegt, als Leif den silbernen Golf um die Kurve biegen sah. Zurück blieb nur Aufregung. Sein Herzschlag legte noch mal zu und er krallte seine rechte Hand in den Stoff seiner Jeans. Es war nicht gerade warm für Juli, graue Wolken bedeckten seit Tagen den Himmel und nun fröstelte er in seinem Shirt.
Der Golf blieb keine drei Meter vor ihm stehen, die trüben Spiegelungen im Glas verwehrten ihm einen klaren Blick auf Sam. Doch, das war der Junge, der nach dem letzten Weihnachten tief vermummt mit einem roten Strickschal in der Dunkelheit des frühen Morgens in eben jenes Auto gestiegen war. Oder – doch nicht? Nein, da vorne saß ein Kerl, den Leif nicht wiedererkannte. Als Sam die Tür öffnete und aus dem Wagen kletterte, stellte Leif fest, dass beide Gedanken der Wahrheit entsprachen – und doch keiner davon. Das Erste, was er bemerkte, waren Sams dunkle Haare, die deutlich länger waren als letzten Winter. Einige Strähnen reichten ihm bis weit unters Jochbein. Das Zweite war, dass sein Freund gewachsen war. Sein graues Shirt spannte an den Schultern und warf dadurch seltsame Falten.
Stumm standen sie einander gegenüber. Leif sah Sam gebannt an, denn er wagte nicht, die letzten zwei Schritte zu überbrücken. War der Typ ihm gegenüber noch sein Freund? Es waren zu wenige Briefe gewesen, die sie einander geschrieben hatten. Zu wenige Telefonate.
Leif konnte sich Samuels Alltag nur grob vorstellen. Das Bild vom schlossartigen Internat hatte Sam ihm schon in den ersten Ferien genommen. Dennoch waren Samuels Erzählungen stets so oberflächlich, dass Leif nur eine verschwommene Vorstellung von dessen Mitschülern und Lehrern hatte. Er wusste, dass Sam sich ein Zimmer mit einem Jungen namens Maximilian teilte. Der schien so weit in Ordnung zu sein, dennoch hatte Leif mit einem Gefühl, das er sich verschämt als Erleichterung eingestehen musste, festgestellt, dass Max ihn nicht als besten Kumpel ersetzen würde.
Leif suchte nach den Spuren der vergangenen sechs Monate in Samuels Gesicht. Er fand unzählige und wusste sie nicht zu deuten. Verunsichert wagte er sich an ein Lächeln. Sam zog zunächst die Brauen zusammen, atmete aus und begann schließlich zu grinsen.
»Du bist geschrumpft, Arnsberg.«
Unfreiwillig erwiderte Leif sein Grinsen. »Arsch.«
Als sie sich kurz umarmten, bemerkte Leif, wie recht Samuel hatte. Er war bisher immer größer gewesen als Sam, doch nun hatten sie gleichgezogen. Knochig und warm fühlte sich seine Schulter an, als Leif kumpelhaft darauf klopfte. Gleich geblieben war Samuels Geruch, der gerade durch eine leichte Note seines Schweißes untermalt wurde. Leif mochte beides. Ja, der hagere Kerl vor ihm war definitiv Samuel Wahlstrom.
Leif lächelte zufrieden und half Sam, seine Sachen in dessen Zimmer zu bringen. Die enge Stiege hinauf in den ersten Stock knarzte unter ihren Schritten. Die Luft, die sie in Samuels kleinem Zimmer erwartete, war abgestanden.
Verschämt dachte Leif daran, wie er sich vor einigen Monaten hier hoch geschlichen hatte, während Kari im Garten hinter dem Haus beschäftigt gewesen war. Er hatte sich wie ein Eindringling gefühlt. Ganz still war es gewesen. Es hatte nach Sam gerochen – oder eher wie die Erinnerung an ihn. Das Zimmer war zu aufgeräumt gewesen, das Bett abgezogen und mit einer Tagesdecke bedeckt. Nur auf dem Schreibtisch hatte ein Rest der üblichen Unordnung geherrscht. Bücher, Zeitschriften, ein Wust an Zetteln. Mitschriften vergangener Schuljahre. Auf den obersten verblasste bereits die blaue Tinte vom Licht, das nachmittags durchs Fenster fiel.
Vorsichtig war Leif durch das Zimmer gewandert. Seine ausgestreckte Hand hatte über dem Stapel geschwebt, gezögert. Er hatte das Papier nicht berührt. Auch die Schublade, in der Samuels alte Tagebücher, verborgen unter Unmengen von Kram und alten Fotos, lagen, hatte er nicht aufgezogen. Er hatte das Rufen der Fotos vernommen. Und das Wispern der Tagebücher. Sie hatten mit Samuels Stimme gesprochen. Ganz leise nur, als würde Sam aus ihnen vorlesen. Als würde er Leif anvertrauen, was er sonst nur in seiner krakeligen Schrift aufs Papier bannte.
Dem Kleiderschrank hatte Leif hingegen nicht widerstehen können. Er war ein dunkles Ungetüm, das drohte, das Zimmer zu verschlingen. Leif wusste, dass Sam den Opaschrank, wie er das alte Ding getauft hatte, liebend gern losgeworden wäre. Doch um ihn die enge Stiege hinunterzubekommen, hätte man den Bauernschrank wohl mit einer Axt zerlegen müssen. Und ein Möbel wegzuwerfen, das noch funktionstüchtig war, kam für Kari Wahlstrom nicht in Frage. Zu sehr musste sie das Geld beisammenhalten.
Der Opaschrank war zäh. Er hatte die gemeinsamen Attacken ihrer Kindheit überlebt, war Versteck, Klettergerüst, Plattform für die Sprünge in Samuels Bett und Monster in einem gewesen. Mit einer leichten Gänsehaut auf den Unterarmen hatte Leif die knarrende Tür geöffnet und Sam-Chaos im Inneren gefunden. Seine Unterlippe fest zwischen die Zähne geklemmt, hatte er seine Fingerspitzen über die schlecht zusammengefalteten Shirts und Pullover gleiten lassen. Eines von Samuels liebsten Schlafshirts – es hatte schon Löcher am Kragen – hatte er herausgezogen, es unvermittelt gegen seine Nase gepresst und tief eingeatmet. Trockene Wäsche, Waschmittel, etwas staubiger Opaschrank-Muff.
Und mittendrin – Sam. Sam an einem trägen Sommermorgen, nachdem sie bis drei Uhr wach gewesen waren. Sam, der verpeilt und noch im Halbschlaf auf der Suche nach Koffein in die Küche stolperte. Sam, der regungslos in seinem Bett lag.
Wie konnte man nur so still schlafen? Kein Schnaufen, kein Schnarchen. Keine zerwühlte Bettdecke. Nur ein ruhiger Körper, auf dem Rücken liegend oder auf der Seite zusammengerollt. Meistens die linke, seltener die rechte. Niemals auf dem Bauch.
Ein schuldiges Ziehen breitete sich in Leifs Bauch aus, als ihm siedend heiß einfiel, dass genau dieses Schlafshirt noch in seinem eigenen Bett lag. Natürlich roch es schon lange nicht mehr nach Sam. Leif hatte sich vor einigen Wochen sogar überlegt, es zurück in Karis Wäschekreislauf zu schmuggeln, damit es zumindest nach dem richtigen Waschmittel roch.
Mit einem dumpfen Laut prallte Samuels Reisetasche auf die hölzernen Dielen, deren Zwischenräume so groß waren, dass man dort wohl bei archäologischen Grabungen Samuels halbe Kindheit und Jugend hätte rekonstruieren können. Chipskrümel, Schokolade, abgebrochene Bleistiftminen, Fussel, kleine Steinchen, kupferne Münzen, Einer-Legosteine, Kerzenwachs, ja, sogar einige Krümel Gras vom letzten Sommer würden die Forscher dort finden.
Ein Schauer überlief Leif, als ihm in den Sinn kam, dass sie womöglich Spuren seines eigenen Spermas finden könnten. Ungefragt drängten Bilder in seinen Kopf.
Ihm wurde warm und er war sich sicher, dass seine Ohren wie ein Barometer Farbe annahmen. Als er Samuels Hand auf der Schulter spürte, schreckte er zusammen.
»Was ist, kommst du mit mir 'ne Runde im Wald laufen? Ich muss mich nach dem ganzen Rumgehocke bewegen – dringend!«, fragte Sam und lächelte ihn an.
Erleichtert darüber, dass Samuel ihm seine Gedanken nicht ansehen konnte, nickte Leif.

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Ein warmer und süßer Geruch erfüllte die Stube. Teller klapperten, als sie auf den Tisch gestellt wurden. Tassen wurden mit dampfendem Kaffee gefüllt. Stimmengewirr um ihn.
Ein Stoß in die Rippen holte Leif aus seinen Gedanken.
»Rück mal ein Stück«, wies Steffen ihn an und schob sich, beladen mit Besteck und mit einer Tüte Milch unterm Arm, an Leif vorbei.
Leif kam es immer noch so vor, als würde er neben sich stehen. Er hatte es für den Rest ihrer Wanderung weiterhin vermieden, Sam anzusehen oder mit ihm zu sprechen. Obwohl er auch durchaus Wut auf Samuel verspürte, war ihr Schweigen von seiner Seite aus nicht feindselig. Es war viel mehr eine schmerzhafte Überforderung, die Leif fest im Griff hatte. Er wollte fliehen. Er wollte Sam packen und anschreien und schlagen. Er wollte allein sein und sich verkriechen. Und der Teil von ihm, der am meisten schmerzte, wollte Sam ansehen.
Der Raum schien zu schrumpfen, als Samuel zum Tisch trat, nachdem er das Feuer im Kamin wieder angeschürt hatte. Stumm ließ er sich an einer der Ecken nieder. Nah zur Tür, als ob er schnell flüchten können wollte. Leif konnte ihn verstehen. Er selbst hatte sich idiotischerweise auf die andere Seite des Tisches gesetzt, eingekesselt von Steffen und Paul, der ihn immer wieder fragend ansah. Leif senkte den Blick auf die Tischplatte und begutachtete den tiefen Teller vor sich, dessen Glasur mit feinen Rissen durchzogen war.
»So, Jungs, dies hier ist Rømmegrøt, eine norwegische Spezialität. Eigentlich isst man das vor allem bei Familienfesten, aber ich dachte mir, für den Start eures Abenteuers ist es das Richtige. Ihr könnt noch Zimt und Zucker darüberstreuen.«
Harkonsen lächelte breit, dann klatschte er ihnen mit einer Kelle etwas auf den Teller, das wie ein breiiger und recht fettiger Vanillepudding aussah. Feine Dampfschwaden kräuselten sich und der Geruch, der bisher nur vage süß und bekannt gewesen war, verdichtete sich zu Erinnerung.
Leif hatte vergessen, wie die Speise hieß, aber niemals könnte er ihren Duft und ihren sahnigen Geschmack vergessen. Geburtstagsessen. Unwillkürlich sah er auf und starrte mitten in Samuels Augen. Ein Kribbeln rann durch seine Adern.
Wie, wenn man zu schnell mit dem Fahrrad unterwegs ist und ein Auto aus einer Ausfahrt geschossen kommt, huschte ein unsinniger Gedanke durch Leifs ansonsten blankes Hirn.
Samuels Miene war unergründlich. Eine Mauer, kühl und unbekannt. Was war nur aus dem Jungen geworden, in dessen Augen er einst geglaubt hatte, alles lesen zu können?
Leif war dankbar, als Steffen ihm Zimt und Zucker reichte. Er streute etwas davon auf seinen Pudding und sofort verbreitete sich herrlicher Zimtgeruch im Raum. Sein Magen knurrte vernehmlich, doch wirklichen Appetit hatte er nicht. Wortlos schob er den Zucker an Sam weiter, den Zimt ließ Leif neben seinem Teller stehen. Sam mochte keinen Zimt, hatte er noch nie.
Leif tunkte den Löffel in den Pudding und schob ihn sich lustlos in den Mund. Süß, fettig und klebrig. Eigentlich herrlich. Und doch erschien ihm seine Kehle wie zugeschnürt. Das Schlucken fiel ihm schwer. Leif graute davor, die großzügige Portion aufessen zu müssen, die Harkonsen ihm aufgetan hatte.
Samuel blickte betreten auf den Zuckerstreuer. Seine Hand hatte sich fest darum geschlossen. Als hätte er Leifs Blick gespürt, sah er ihm in die Augen. Und für einen kleinen Moment konnte Leif Trauer darin erkennen und etwas, das ihn an sein eigenes Spiegelbild erinnerte, in den Monaten, nachdem er begriffen hatte, dass Sam nicht zurückkommen würde.


Als sie das Essen schließlich beendeten, war Leif etwas übel. Er machte sich zusammen mit Steffen an den Abwasch, nutzte das auf dem gusseisernen Herd erwärmte Wasser und stapelte die Teller und Tassen in eine kleine Plastikschüssel. Als er fragte, wohin er das gebrauchte Wasser entsorgen sollte, lachte Harkonsen.
»Kipp es einfach aus dem Fenster. In den Mengen, die hier pro Jahr zusammenkommen, ist das unbedenklich. Und der Regen, der dort hinten aufzieht, wird das Schmutzwasser schnell wegspülen.«
Harkonsen deutete auf die graue Wand am Himmel, die sich langsam über den See schob.
»Das sieht ungemütlich aus«, kommentierte Steffen.
»Nee, ist nur etwas Regen. Kann gut sein, dass es morgen den Tag über auch noch regnet. Gute Regensachen habt ihr hoffentlich mit? Die Wettervorhersage hat für diese Woche zwar recht viel Sonne angekündigt, aber wirklich zuverlässig sind die Vorhersagen meist nicht. Ist vielleicht gar nicht so schlecht, wenn es morgen regnet, dann könnt ihr euch mehr auf die Vorbereitungen zum Aufstieg konzentrieren. Nicht, dass ihr gleich zum Beerensammeln verschwindet.«
Harkonsen klopfte dem verwirrt dreinblickenden Steffen freundlich auf die Schulter, und wandte sich zur Tür.
»Samuel, bleibst du über Nacht hier oder soll ich dich ein Stück mitnehmen?«
Leif zuckte zusammen. Er hatte nicht bemerkt, dass Sam wieder in die Hütte gekommen war. Der hatte seinen Teller mit Rømmegrøt fast unberührt gelassen und war dann mit einer knappen Bemerkung auf Norwegisch vom Tisch verschwunden, bevor die anderen auch nur die Hälfte des mächtigen Puddings verputzt hatten.
Leif war froh darum gewesen. Sobald Sam den Raum verlassen hatte, glaubte Leif, wieder frei atmen zu können. Dieses Gefühl wich nun schlagartig einer drückenden Enge in seinem Brustkorb.
»Nei, lass mal«, wehrte Sam ab. »Ich laufe. Kann etwas frische Luft vertragen.«
Harkonsen lachte. »Na, hätte ich mir denken können. Steigst nur in ein Auto, wenn es unbedingt sein muss.«
Wenigstens das hatte sich nicht geändert, kam es Leif in den Sinn. Sam war früher oft im Auto schlecht geworden. Er fragte sich, wie lange Sam zu Fuß wohl zu seiner Hütte brauchte. Und warum er nicht einfach hierblieb. Der Gedanke verursachte ihm eine Gänsehaut.
Mit einigen letzten Erklärungen – »Fallt heute Nacht bei der Suche nach dem Plumpsklo nicht in den See« und »Verriegelt die Eingangstür mit dem Schieber, hier gibt es frei laufende und sehr neugierige Schafe« – verabschiedete sich Harkonsen von ihnen und versprach, übermorgen zurückzukehren, damit sie gemeinsam den Aufstieg zum Speilhav machen konnten. Sam hingegen würde ihnen morgen eine Einführung in die Funkgeräte geben und mit ihnen die Ausrüstung zusammenpacken.
Zusammen mit Harkonsen verließ Samuel die Hütte, drehte sich in der Tür jedoch noch einmal um. Sein Blick lag auf Leif, als er sich mit einem kurzen »Ha det bra« verabschiedete. Seine ungelenke Erwiderung blieb Leif im Halse stecken.
Erst nachdem die Tür hinter den beiden zugefallen war, trat Leif ans Küchenfenster und beobachtete die beiden ungleichen Männer, denen der beginnende Regen nichts auszumachen schien. Samuel zog sein Basecap tief in die Stirn, während er neben Harkonsen und dessen Auto stand und einige Worte mit ihm wechselte.
Zunächst wusste Leif nicht, was ihn an diesem Anblick irritierte, bis Harkonsen auf einen Satz Samuels hin energisch den Kopf schüttelte. Der ältere Mann wirkte sehr ernst, fast angespannt. Seitdem er sie vom Bahnhof abgeholt hatte, hatte Harkonsen fast die ganze Zeit gelacht und viele Scherze gemacht. Leif fragte sich, was Samuel gesagt hatte, um diesen Stimmungsumschwung hervorzurufen.
Seine Irritation wich Erstaunen, als Harkonsen Sam väterlich die Hand auf die Schulter legte und sich näher zu ihm beugte. Eindringlich sprach er auf Samuel ein, bis dieser sich von ihm losmachte. Leif konnte Samuels Gesichtsausdruck nicht sehen, aber seine hochgezogenen Schultern sprachen von Abwehr.
Harkonsen schüttelte resigniert den Kopf, dann stieg er in sein Auto und fuhr davon. Eine Weile sah Samuel dem Auto nach, dann schulterte er einen ausgebeulten Militärrucksack, der neben ihm gestanden hatte, und machte sich durch den Regen und die beginnende Dämmerung auf den Weg zu seiner Hütte.



Regen prasselte gegen die Scheibe des kleinen Schlafzimmers, in dem Leif gerade umständlich versuchte, das Etagenbett zu beziehen. Himmel, wie schliefen die Norweger in so kurzen und schmalen Betten? Die waren doch auch nicht gerade klein gewachsen. Mit einem Knurren zerrte er das Laken unter die Matratze. Als er sich wieder aufrichten wollte, stieß er sich natürlich den Kopf am oberen Bett. Er fluchte gerade, als Paul sich ins Zimmer schob.
»Hier, die riechen zwar etwas muffig, sind aber sauber.«
Paul warf ihm eine Decke und ein Kissen zu. Ein Luxus, denn so würde Leif nicht in seinem engen Mumienschlafsack schlafen müssen, in dem er stets Beklemmungen bekam.
»Danke«, murmelte Leif und fischte nach dem dunkelblauen Bettzeug aus seinem Rucksack.
Der Bezug war ein Relikt seiner Kindheit und hatte ihn schon auf Klassenfahrten begleitet. Weiße Kringel waren darauf zu sehen und Leif konnte bis heute nicht sagen, ob sie Wolken oder abstrakte Schafe darstellen sollten.
»Sag mal, was ist das für eine Geschichte zwischen dir und dem Wildhüter?«, fragte Paul.
Sorgfältig drehte Leif den Bezug auf links, schnappte sich die Ecken der Bettdecke und stülpte den Bezug darüber.
»Nichts Besonderes. Eine alte Jugendfreundschaft. Wir haben uns aus den Augen verloren.«
Er schüttelte die Decke, so gut es in dem kleinen Raum möglich war. Staub kitzelte in seiner Nase.
»So, wie du dich benimmst, steckt mehr dahinter«, stellte Paul fest.
Leif schnaubte entnervt und stopfte den Rest der Decke recht grob in den Bezug. Paul war eine Nervensäge. Und fast so hartnäckig wie das unangenehme Ziehen in Leifs Magen, das ihn begleitete, seitdem er Samuel wiederbegegnet war. Zu Hause in Hamburg hatte er für gewöhnlich keine Probleme, mit Paul über Männer zu sprechen. Obwohl Paul – bis auf gelegentliche verbale Entgleisungen – stockhetero war, hatte er eine gehörige Portion dreckigen Humors und war neugierig wie eine Katze.
Für einen Moment gab Leif den Kampf mit der Decke auf und rollte mit den Schultern. Seine Gelenke knackten leise. Dann sah er Paul, der sich gegen den Türrahmen lehnte, stirnrunzelnd an.
»Wir waren Freunde. Beste Freunde. Ich habe mich in ihn verliebt. Er hat es gemerkt. Ende der Freundschaft. Ende der Geschichte«, fasste er zusammen.
»Hm«, machte Paul und schürzte die Lippen. »Er ist also nicht schwul?«
Leif wandte sich dem Bett zu, bückte sich unter die obere Etage und verstaute die Decke. Dann griff er sich das etwas stockfleckige Kissen, rümpfte die Nase und zog den Kissenbezug darüber. Seine Gedanken wanderten zu seinem ehemaligen Freund. Dem Sam, den er geglaubt hatte zu kennen. Ein Bild tauchte vor Leifs innerem Auge auf.
Sam, der ihn mit diesem Glitzern in den Augen von unten herauf ansah. Sein Kinn erschien spitz, seine dunklen Augenbrauen waren aufgewölbt. Ein mutwilliges Lächeln auf den geröteten Lippen. Er hatte etwas von einem kleinen Teufel gehabt, als er so über Leifs Beinen gekniet hatte. Samuels Hände hatten an seinen Hüftknochen gelegen und verhindert, dass Leif sich bewegte. Dann hatte Sam ganz langsam an seinem Bauch hinabgeleckt, bis er...
Leif biss die Zähne zusammen. Das war vergangen. Lange vorbei.
»Ich habe keine Ahnung, ob er schwul ist oder nicht.« Leif stockte. Die nächsten Worte presste er nur mühsam hervor. Sie taten immer noch weh. »Aber ich weiß, dass er meine Gefühle nicht erwidert hat.«




1 Kommentar:

  1. Hallo Dewi,
    kurz und knapp: Es liest sich sehr gut, macht Lust auf mehr; schön finde ich auch, dass du mit Rückblenden arbeitest, so kann man als Leser einen Blick in die Vergangenheit von Leif werfen und gleichzeitig im "Jetzt" dabei sein - spannend.

    Vielen Dank
    A.

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