Samstag, 31. Mai 2014

Parallelwelt - Leseprobe Kapitel 2

Kapitel 2


Dunkelheit umschloss Leif, samtweich und undurchdringlich. Er konnte nicht einmal seine eigenen Hände erkennen, doch das verunsicherte ihn nicht. Er hatte keine Angst.
Er hörte ein entferntes Rauschen, wahrscheinlich von den Bäumen, die um das Grundstück herum wuchsen. Er stand einfach nur da, seine Arme hingen entspannt an seinem Körper herab. Er fror nicht, wenngleich er den kalten Boden unter seinen nackten Füßen fühlte.
Leif sah hinaus in die Schwärze. Er fühlte sich schläfrig und gleichzeitig entspannt. Obwohl die Welt um ihn herum totenstill war, fühlte er sich nicht allein. Nein, er wusste, dass er nicht allein war.

Er drehte den Kopf in die Richtung, in der er den anderen spürte. Sie berührten sich nicht, standen nebeneinander. Als würde er aus den Tiefen dunklen Wassers auftauchen, wurde der Mann neben ihm aus der Finsternis geboren und verdichtete sich zu grauen Schemen.
Er kam Leif bekannt vor, doch er konnte ihn nicht einordnen. Er mochte etwa so alt sein wie er selbst, hatte dunkles Haar und war etwas kleiner als Leif. Der Ausdruck seines Gesichts war ernst, aber nicht streng. Nur der Zug um seinen Mund kündete von Verlust.
»Wer bist du?«, fragte Leif.
Der Mann lächelte ihn an. »Du bist groß geworden.«
Eine seltsame Antwort, fand Leif. Und doch, irgendwie schien sie auszureichen. Er zuckte mit den Schultern. Der Mann drehte sich wieder nach vorn. Leif tat es ihm gleich und betrachtete die Schwärze, als wäre sie ein Gemälde in einem Museum.
»Es wird Zeit für dich zu gehen«, sagte der Mann.
»Was meinst du?«
»Siehst du es nicht? Dort? Du musst hindurch«, antwortete der Mann und zeigte mit ausgestrecktem Arm schräg vor sie.
Doch alles, was Leif sehen konnte, war Schwärze. Nur, dass diese nicht mehr freundlich war. Sie grollte lautlos, Leif konnte es in seinen Knochen vibrieren fühlen. Er wich einen Schritt zurück.
»Nein... ich will nicht.«
»Du musst. Es gibt keinen anderen Weg«, entgegnete der Mann. »Du musst finden, was verloren ist.«
Leif war, als hätte er etwas Wichtiges vergessen. Er fühlte es, konnte es aber nicht greifen. War es das, was der Mann von ihm verlangte? Musste er diese Sache suchen?
Er zuckte zusammen, als er eine kindliche Stimme vernahm.
»Pappa
Leif hätte den Knirps auch nur an der Stimme erkannt, wenn er nicht aus den Schatten herausgetreten wäre. Nun begriff Leif auch, woher er den Mann an seiner Seite kannte. Vertrauensvoll blickte Sam zu seinem Vater auf und griff nach dessen Hand. Die Ärmel seines geringelten Pullovers waren zu kurz, in seiner Latzhose prangte ein Riss am Knie.
Obwohl der Kleine kaum mehr als vier Jahre alt sein konnte, lag etwas Befremdliches in seiner Art. Sam hatte nicht den Ausdruck eines Kindes, sondern den eines erwachsenen Mannes, als er seinen Vater traurig anlächelte. In diesem Moment glichen sich Vater und Sohn frappierend.
Ein Donnergrollen ertönte und Sam blickte besorgt zu der brodelnden Schwärze, die sich ihnen näherte. Langsam, wie eine Schlange auf der Jagd.
»Pappa, geh ins Haus. Es wird bald regnen«, wies der junge Sam seinen Vater an.
Andreas Wahlstrom gehorchte.
»Es war schön, dich wiederzusehen, Leif.«
Andreas lächelte Leif an, wandte sich um und verschwand in der Dunkelheit. Sam blickte seinem Vater hinterher und seufzte leise.
»Er macht sich Sorgen um dich.«
Die Worte klangen wie ein Vorwurf aus dem kindlichen Mund.
»Muss er das denn?«, fragte Leif.
Sam schlang die Ärmchen um seinen Körper, als würde er frieren. Er zog die Brauen zusammen und sah in Richtung der Schwärze.
»Ja.«


Der Morgen stellte sich als grauenvoll heraus. Leifs Kopf schmerzte und sein Nacken war verspannt. Mit einem Schnaufen krabbelte er aus dem Bett und streckte sich ausgiebig.
Angesichts der Erlebnisse des Vortages hatte er lange nicht einschlafen können. Als es ihm dann endlich gelungen war, hatte sich seine Aufgewühltheit in seine Träume geschlichen. Er erinnerte sich dunkel, dass er etwas hatte suchen sollen. Was genau, wusste er nicht mehr. Verloren war er umhergeirrt und am Ende von eisiger Schwärze verschlungen worden. Die Kälte hatte sich in seinen Knochen eingenistet, als er mit einem erstickten Schrei erwacht war.
Er war froh, dass er sich das Zimmer noch nicht mit Paul teilen musste, denn der hätte sich bei ihm bedankt. Immer wieder war er nach dem Traum wach geworden, hatte sich unruhig hin und her geworfen, gequält von Erinnerungen und gefangen in wirren Gedankengängen. Der Fluchtimpuls war groß gewesen.
Scheiß auf den Speilhav, scheiß auf die Proben, scheiß auf die Abschlussarbeit!
Genau. Hauptsache, er konnte dieser Situation entkommen. Vor Sam davonlaufen, vor Erinnerungen und Gefühlen, von denen Leif gehofft hatte, sie endlich zurückgelassen zu haben. Schmerz. Verzweiflung. Das Gefühl, weder gewollt noch gebraucht zu werden. Wut und Hass. Vor allem auf die eigene Schwäche.
Er hatte damals lange gebraucht, sich daraus hervorzuarbeiten. Zu begreifen, dass andere Menschen durchaus an ihm interessiert waren. Andere Männer. So lange war Sam das Maß aller Dinge gewesen: Freund, Bruder und – Geliebter, auf eine seltsame und versteckte Art. Alles eins. Noch Jahre nach ihrer Trennung hatte sein Schatten über Leif gehangen, hatte jeden Mann, der Leif wichtig hätte werden können, in Dunkelheit getaucht.
Doch dann war Micha in Leifs Leben getreten. Ganz anders als Samuel war er gewesen. Offen. Mit einem Lachen, das jeden Menschen sofort für ihn einnahm. Micha war hungrig gewesen. Auf neue Menschen, neue Erfahrungen. Vielleicht war Leif so eine neue Erfahrung gewesen, zu Beginn. Doch irgendwie hatte sich das zwischen ihnen verselbstständigt, war gewachsen. Fast zwei Jahre waren sie zusammen gewesen. Micha hatte viele Wunden in Leif heilen lassen. Und doch... hatte es nicht gereicht.
Leif lächelte bei den Erinnerungen an Micha traurig. Er wollte die gemeinsame Zeit mit ihm nicht missen. Doch er schämte sich für das Ende. Es war ihrer nicht würdig gewesen und er trug die Schuld daran. Er hatte Micha betrogen. Es war eine dumme Entscheidung gewesen, mit dem Typen mitzugehen, der ihn in der Kneipe angegraben hatte. Nein, tatsächlich war es wohl gar keine Entscheidung gewesen, denn Leif hatte schlichtweg nicht nachgedacht. Der Blick des Kerls hatte auf seiner Haut geprickelt. Er hatte diese berauschende Mischung aus Angst und Erwartung gespürt. Wie ein Junkie auf Entzug war er darauf angesprungen. Und mit dem Kater seines Lebens aufgewacht.
Er hatte es Micha nicht verheimlichen können. Als er zerschunden in seine Wohngemeinschaft gekommen war, hatte Micha dort schon auf ihn gewartet. Blass. Einen Becher mit erkaltetem Tee in den Händen. Enttäuschung und Unverständnis im Blick. Leif hatte ihm nicht erklären können, was er gesucht hatte. Was er für wenige Augenblicke geglaubt hatte zu spüren, bis auch diese Illusion zerbrochen war.
So viel Wärme Micha auch in sich trug, er war fähig, sie von einem Moment auf den anderen zu entziehen. Zurück blieb ein hübscher junger Mann mit aschblonden Haaren, einer Zahnlücke und einer Haltung, die an eine Königin beim Protokoll erinnerte. Leif hatte sich schäbig verhalten, aber Micha zeigte Rückgrat.
Es hatte ihm wehgetan, Micha zu verlieren. Leif hatte ihn vermisst, sein Lachen, die frechen Kommentare, seine Verspieltheit im Bett.
Und doch hatten gerade die ersten Monate ihrer Trennung Leif sehr deutlich gemacht, dass etwas Entscheidendes zwischen ihnen gefehlt haben musste. Denn es brach ihm nicht das Herz. Er lebte weiter. Einfach so. Und mit jedem Tag gewann die melancholische Dankbarkeit Überhand über das Vermissen. Bis das Vermissen nur eine Erinnerung war. Milde und blass.
Danach brauchte Leif niemanden mehr, der seine Wunden versorgte. Er war nicht heil, aber intakt genug, um zu leben. Zu flirten, zu lachen, wütend und betrunken zu sein. Sich ab und an in eine Affäre zu stürzen. Interessant, heiß und belanglos. Er hielt es aus, allein zu sein, genauso, wie er Gesellschaft ertrug. Sein Leben fühlte sich richtig an. Lernstress an der Uni, manchmal Zukunftsängste, die er mit den meisten seiner Kommilitonen teilte. Freunde, die ihm wichtig waren. Allen voran Paul.
Es war eine fadenscheinige Sicherheit, die er in den letzten Jahren gewonnen hatte. Und er Idiot hatte all die Zeit geglaubt, an einer festen Rüstung zu arbeiten, die ihn durchs Leben begleiten konnte. Nun stand er da, in Lumpen gehüllt.


Die morgenfrische Luft biss ihm ins Gesicht, als sich Leif fröstelnd zum See begab. Außer ihm war noch niemand wach und er genoss die Ruhe. Er betrat den dunklen Steg, der ein paar Meter weit ins Wasser führte. Das Holz war vom nächtlichen Regen nass und an einigen Stellen verzogen, eine morsche Planke war durchgebrochen. Es roch nach feuchter Erde, nach Pflanzen und See. Leif hockte sich hin und streckte die Hand ins Wasser. Sofort bekam er eine Gänsehaut. Verdammt, war das kalt! Aber nach dieser Nacht voller Albträume fühlte er sich verklebt und wollte die Schatten seiner dunklen Erinnerungen schnellstmöglich abwaschen.
Aus dem Bootsschuppen holte er eine Schöpfkelle und eine alte Waschschüssel aus Emaille, die er auf dem Steg mit klarem Seewasser befüllte. Es hatte etwas von Camping an sich, als er sich aus seiner Jacke und seinem Shirt schälte und sich zügig mit dem eisigen Wasser wusch. Aber immerhin weckte es seine Lebensgeister. Schnell rubbelte er sich trocken und zog die Kleidung wieder über. Er war gerade mit Zähneputzen fertig, als sich jemand hinter ihm räusperte. Überrascht fuhr Leif herum.
»Hey.«
Samuel stand vor ihm, die Hände in den Hosentaschen vergraben, und blickte auf ihn hinab. Sofort griff Leif nach seinen Sachen und erhob sich. Er mochte es nicht, zu Sam aufsehen zu müssen.
»Morgen«, presste er hervor.
Er wollte weg. Einfach nur weg. Sein Stolz verbot es ihm jedoch, die Beine in die Hand zu nehmen. Also krallte Leif die Finger in das raue Frotteehandtuch und sah Sam kühl an. Er fragte sich, was Sam um diese Uhrzeit hier machte. Es war kurz vor sieben und wenn Samuel wirklich mehrere Kilometer entfernt lebte, musste er schon vor Stunden aufgestanden sein.
Einige Herzschläge lang sahen sie sich schweigend ins Gesicht.
Sam hatte sich verändert. Er hatte Falten um die Augen bekommen und eine senkrechte Linie auf der Stirn. Leif wusste ganz genau, woher sie kam. Immer, wenn Sam grübelte, zog er die Brauen zusammen, sodass er mürrisch, wenn nicht sogar wütend wirkte. Dabei war er nur konzentriert. Beim Sport hatte er manchmal richtig böse ausgesehen. Die Schramme an seinem Kinn zeichnete sich rosa in dem Bartschatten ab, der sich dunkel über Kinn und Wangen erstreckte. Sam wirkte müde, seine Augen waren gerötet.
Früher hatte Leif oft geglaubt, er könne in den Augen seines besten Freundes ertrinken, so tief und bewegt waren sie ihm erschienen. Nun waren sie einfach ein Paar brauner Iris. Flach wie eine verschlossene Tür.
Mit einem entschlossenen Schritt schob sich Leif an Samuel vorbei. Der Steg war zu schmal, als dass er dabei hätte so viel Abstand wahren können, wie er es gerne gewollt hätte.
»Leif, warte bitte«, sagte Samuel leise.
Der Fluchtimpuls trieb Leif bis zum Ende des Stegs. Erst dann drehte er sich um. Es war besser so. Mit Luft zwischen ihnen, die nicht nach Sam roch.
»Was ist?«, fragte er.
Samuel atmete tief ein und zog im selben Moment die Schultern empor. Die vergangenen Jahre schienen von ihm abzufallen. Zurück blieb ein Teenager, der nicht wusste, wo er mit seinen zu langen Gliedmaßen hin sollte. Leif hasste den Anblick.
»Hätte ich gewusst, dass du... Ich hätte einen Bekannten gebeten, mich für diese Zeit zu vertreten. Es... es tut mir Leid.«
Kälte schlich sich in Leifs Brustkorb, tastete mit klammen Fingern nach seinem Herzen und schloss die Faust darum.
»Ich werd's überleben«, sagte er und wunderte sich, dass er überhaupt ein Wort herausbekam.
Sam presste die Lippen aufeinander, dann nickte er. »Ja... Ich... Lass uns einfach... versuchen, normal miteinander umzugehen, okay?«
Leif hätte Sam gerne ins Gesicht gelacht. Oder ihn geschlagen. Normal.
»Sicher. Ich werde mich einfach so weit es geht von dir fernhalten«, knurrte er.
Er wollte sich abwenden, doch Samuel hielt ihn erneut auf: »Leif!«
Leif zog eine Augenbraue empor. Wenn Sam ihn nicht bald gehen ließ, würde er ihn im See ersäufen. Oder so lange auf ihn einschlagen, bis dieses Gesicht nicht mehr aussah wie in Form gegossene Sehnsucht. Er war sich sicher, dass ihm seine unterdrückte Wut deutlich anzusehen sein musste.
»Es tut mir wirklich Leid.«
Leif wartete nicht mehr ab, ob Sam sich näher dazu äußern wollte, was genau er eigentlich bedauerte: die Gegenwart oder ihre Vergangenheit. Er zuckte mit den Schultern und stieg den kleinen Pfad empor, der zur Hütte führte. Während des Rückweges glaubte er, Samuels Blick zwischen seinen Schulterblättern zu spüren. Als er in die Hütte eintrat, konnte er sich nicht mehr beherrschen und sah zum Bootshaus zurück. Doch Sam war verschwunden.


»Das Grundprinzip ist denkbar einfach: Wer spricht, muss den Knopf nach unten drücken. Es kann immer nur einer sprechen. Wenn man den Gegenpart hören will, muss man den Knopf loslassen«, erklärte Samuel den Gebrauch der Funkgeräte, die Leif an klobige Handys aus den Neunzigern erinnerten.
 »Wir funken auf PMR 446, das bedeutet, dass wir theoretisch eine Entfernung von acht Kilometern überbrücken können. Tatsächlich ist es aber meistens weniger, wenn zum Beispiel Hügel oder Wälder zwischen den Funkenden liegen. Direkt am Speilhav ist der Empfang aber meistens ganz gut. Die Funkgeräte sind alle auf Kanal 5 eingestellt und so konfiguriert, dass wir eine geschlossene Gruppe bilden. Das heißt, Außenstehende bekommen unsere Gespräche nicht mit, es sei denn, sie legen es darauf an und knacken den Zugang. Ihr könnt außerdem anwählen, ob ihr mit allen Gruppenmitgliedern Kontakt aufnehmen wollt oder nur mit einem einzelnen Mitglied.«
»Funktioniert also wie ein Gruppenchat im Vergleich zu einem privaten Gespräch«, warf Steffen ein.
Samuel blickte Steffen irritiert an, als ob er nicht mit einem solchen Kommentar gerechnet hätte.
»Hm, ja, so könnte man das wohl sagen.«
Samuel griff nach Steffens Funkgerät und wählte die Einstellung für eine Gruppenkommunikation. Der Ärmel seines Parkas rutschte nach oben, entblößte blasse Haut und ein abgetragenes Lederarmband.
Unauffällig schob Leif sich näher, nicht nur, um zu sehen, was Samuel ihnen am Funkgerät erläuterte, sondern um einen besseren Blick auf dessen Handgelenk zu werfen. Tatsächlich. Das breite Leder war verschrammt, die Prägungen kaum noch zu erkennen. Es hatte sich mit dem Verschluss nach oben gedreht, sodass Leif die braunen Druckknöpfe ausmachen konnte. Er blinzelte. Sie waren silbern gewesen, damals. Er war sich ganz sicher.


Sommer 2004

Leif betrachtete das kleine Päckchen in Samuels Händen. Es war recht hässlich, das Papier war an mehreren Stellen eingerissen und die Tesafilmstreifen saßen schief. Sogar einige Krümel und ein kurzes Haar hatten sich auf die Klebefläche geschlichen, als Leif das Geschenk verpackt hatte.
Sein Herzschlag legte an Tempo zu, als Sam das Päckchen umständlich öffnete. Himmel, warum riss er es nicht einfach auf? Samuels Geduld machte ihn beinahe wahnsinnig.
Als Sam den Inhalt endlich befreit hatte, lastete die Stille schwer auf Leifs Ohren.
Sam drehte das lederne Armband in den Händen. Es war dunkelbraun und mit einer Prägung versehen. In einen keltischen endlosen Knoten eingebettet befand sich ein Symbol: ein Kreis mit zwei parallelen, senkrechten Linien, die darüber verliefen.
Leif verfluchte sich für seinen dummen Einfall. Am Ende ihres Familienurlaubes in Irland hatte er die Idee noch gut gefunden, Sam das Armband als verspätetes Geburtstagsgeschenk mitzubringen. Wenn er schon nicht bei ihm sein konnte, um mit ihm zu feiern. Aber jetzt war es nur noch billiger Tand aus einem Souvenir-Shop.
Sam strich mit dem Mittelfinger über die sich überkreuzenden Linien des Knotens, bis er zum Kreis in der Mitte angelangt war. Leif räusperte sich leise.
»Das ist so was wie ein Glücksbringer, hat der Typ im Laden gesagt. Ich fand es ganz cool und dachte...«
Er hatte gedacht, dass die Farbe gut zu Sam passen würde. Dass er den Geruch von Leder mochte. Dass das Armband breit war, irgendwie maskulin... dass es schön wäre, wenn Sam es tragen würde. Natürlich sagte er Sam nichts von alledem.
Sam lächelte, während er den Kreis mit der Fingerspitze nachfuhr. »Erde... und hier«, er strich über die parallelen Linien, »Mond.«
Er blickte auf.
»Das ist Sigil, ein druidisches Schutzsymbol. Danke!«, grinste Sam. »Machst du es mir um?«
Leif nickte, legte das Armband um Samuels rechtes Handgelenk und schloss die hell glänzenden Druckknöpfe mit einem leisen Klicken.
»Woher weißt du das?«, fragte er dabei erstaunt.
Sam zuckte mit den Schultern.
»Musste vor Kurzem in Geschichte ein Referat halten. Da kam's drin vor.«
Leif runzelte skeptisch die Stirn. Sie nahmen in der Schule gerade die Weimarer Republik durch und er konnte sich nicht vorstellen, dass der Lehrplan an Samuels Internat so anders aussah, selbst, wenn es in einem anderen Bundesland lag. Ein leichter Stoß schreckte Leif auf.
»Hey, nicht träumen!«, lachte Sam.
Seine Hand lag auf Leifs Schulter. Warm und fest. Ein Kribbeln schien von ihr auszugehen. Leif wurde unbehaglich, er hätte sich am liebsten unter der Berührung weggeduckt und doch konnte er es nicht. Zu lange war das letzte Mal her. Eine kurze Umarmung, als Leif zusammen mit Tilda und seinen Eltern heute Mittag zu Hause angekommen war. Oberflächlich. Nicht genug.
So sehr er die zwei Wochen in Irland auch genossen hatte, hatte er sie gleichzeitig verflucht. Sie stahlen ihm wertvolle Zeit mit Sam. Nur noch dreizehn Tage Ferien lagen vor ihnen, dann würde Sam wieder verschwinden.
Leif sah in Samuels Gesicht und war sich sicher, dass sein bester Freund ihm alles ansehen musste: die Sehnsucht, seine Unsicherheit und dieses verrückte Verlangen. Wenn Sam wüsste, an wen Leif in schöner Regelmäßigkeit dachte, wenn er sich einen runterholte, würde er ihn wahrscheinlich auslachen. Oder ihm eine reinhauen.
Leif biss fest die Zähne zusammen und versuchte sich an einem Lächeln. Den Schein wahren... genau. Als Samuels Daumen über seine Schulter strich, ganz kurz nur, verrutschte sein Lächeln und gab noch mehr von ihm preis. Sam war so nah... Seine Pupillen erschienen riesig, als wollten sie das warme Braun der Iris verschlingen. Leifs Blick huschte zu den schmalen Lippen des anderen Jungen. Sie waren trocken, ein kleiner Riss in der Unterlippe zeigte, dass Sam mal wieder daran herumgeknabbert hatte. Eine schlechte Angewohnheit, die Leif inzwischen regelmäßig um den Verstand brachte. Wenn er sich jetzt weiter vorlehnen würde, dann könnte er...


1 Kommentar:

  1. Hallo Dewi,

    der Anfang war beklemmend, dann die Erkenntnis - es ist nur ein Traum, aber dennoch bleibt ein bedrückendes Gefühl, das auch Leif durch den Tag schleppen muss. Sams und Leifs Zusammentreffen am Steg, das Unvermögen miteinander zu reden, so viel Frust und Wut.
    Leif ist es schier unmöglich, sich nicht seiner Vergangenheit zu stellen, sie drängt sich im praktisch auf, in kritischen Betrachtungen der letzten Jahre und dem Zusammenleben mit seinem Freund Micha, als auch in Erinnerungen an seine Jugend, die weitaus schmerzhafter sind....

    Ich mag die Zeitsprünge, den dunklen Unterton der Geschichte, sie macht süchtig.

    Vielen Dank fürs Teilen!
    A.

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