Montag, 2. Juni 2014

Parallelwelt - Leseprobe Kapitel 3

Kapitel 3


Ein Schweißtropfen rann seine Schläfe hinab und kitzelte ihn, sobald er den Halsansatz erreicht hatte. Leif mochte das Gefühl seines ruhig und schwer schlagenden Herzens. Das Gewicht des Rucksacks drückte auf seine Schultern und Hüften. Schon vor einer Stunde hatte er sich Regen- und Fleecejacke ausgezogen. Die Sonne schien, die Luft war klar und frisch. Der Anstieg war nicht so schwierig, wie er befürchtet hatte, aber dennoch sehr anstrengend. Neben ihm schnaufte Paul. Er sah mitgenommen aus und Leif grinste ihn frech an. Seinem Freund schien die Puste für eine entsprechende Entgegnung zu fehlen.

Gemeinsam mit Sam hatten sie am Vortag alles Nötige zusammengepackt. Neben ihren eigenen Sachen und drei Zelten gehörte dazu vor allem die Ausrüstung zur Entnahme der Proben. Jeder von ihnen beschäftigte sich mit einem eigenständigen Teilgebiet, sodass sie in unterschiedlichen Zonen des Sees unterwegs sein würden. Mit einem Schlauchboot würden sie auch hinausfahren und Wasserproben in unterschiedlicher Tiefe sammeln können. Leif mochte sich nicht vorstellen, wie das Ding hier heraufgeschleppt worden war.
Er blieb stehen und beschattete seine Augen. Sie waren inmitten eines Geröllfeldes, das sanft anzusteigen schien. Von ferne erweckte es zumindest den Eindruck. Tatsächlich war die Steigung ganz schön happig. Immer wieder rutschte das feine Geröll unter ihren Stiefeln weg, sodass jeder bewältigte Höhenmeter eine mühselige Plackerei war.
»Beschissenes... über... dimensionales... Katzenklo!«, keuchte Paul und wischte sich über die Stirn.
Hätte Leif mehr Atem gehabt, hätte er gelacht. Doch so grinste er nur schwach und konzentrierte sich auf den Weg. Einige Meter vor ihm gingen Samuel und Harkonsen, dicht gefolgt von Steffen, dessen Gesichtsfarbe inzwischen ein ungesundes Rot angenommen hatte. Auch Samuels Shirt war verklebt, seinen Parka hatte er unter die Klappe seines Armeerucksacks gestopft. Ein Ärmel lugte heraus und baumelte hin und her. Seine langen Beine trugen ihn in gleichmäßigen Schritten bergan.
Leif war bei dem Anblick versucht, seinen Kopf gegen einen der sie umgebenden Felsen zu schlagen. Dass ein Teil seiner selbst sich nur allzu schmerzhaft bewusst war, wer dort vor ihm ging, änderte aber leider nichts an der Tatsache, dass ein anderer Teil von ihm – wahrscheinlich nah am Hypothalamus positioniert – Sam schlichtweg auf den Arsch starrte. Leif fand sich selbst zum Kotzen.
Das Terrain um sie veränderte sich allmählich. In den Senken lag alter Schnee, angetaut und glitzernd wieder festgefroren. Der Schnee erinnerte Leif an die Konsistenz von Baiser, wenn er darüber lief und die oberste Schicht plötzlich brach, sobald er genügend Gewicht auf ein Bein legte. Je weiter sie emporkamen, umso flächiger und tiefer lag der Schnee, bis er Leif an einigen Stellen bis über die Knie reichte.
Auf einer Hügelkuppe machten sie Halt. Leifs Trinkflasche war fast leer und gierig sog er die letzten Schlucke ein.
»Hier.«
Sam hielt ihm seine Flasche hin. Die Sonne glänzte auf dem Aluminium. Obwohl Leif Durst hatte, war er versucht, mit einem stummen Kopfschütteln abzulehnen. Verärgert zog er die Brauen zusammen. Er benahm sich wie ein kleines Kind. Samuel konnte offensichtlich normal mit ihm umgehen. Warum musste er selbst sich dann stets die Blöße geben und dem anderen zeigen, dass... Mit einem Nicken, das alles andere als entspannt und freundlich wirkte, nahm Leif die Trinkflasche an.
Sam wollte sich bereits wieder von ihm abwenden, als er von Leifs hervorgepresstem Danke aufgehalten wurde. Samuel sah Leif einen Herzschlag lang an, dann lächelte er. Ein oberflächliches Lächeln. Doch was Leifs Magen ein seltsames Flattern bescherte, war der Ausdruck ehrlicher Überraschung, den er ganz kurz in Samuels Augen hatte erkennen können.
Als sie schließlich den Speilhav erreichten, raubte der Anblick Leif den Atem. Aber es war nicht die herbe Schönheit der Natur um ihn, die sein Herz so stark schlagen ließ, dass ihm die Kehle eng wurde und Übelkeit mit jedem weiteren Atemzug in ihm aufzusteigen schien. Unbewusst hob er die Hand zum Kragen seines Shirts und zerrte daran.
Leif kannte diesen See.
Er hatte viele Male an seinem Ufer gestanden. War auf das milchige Eis getreten. Hatte sich in trügerischer Sicherheit gewiegt und die gezackten Felsen am Ende des gefrorenen Gewässers anvisiert, als ob sie ihm helfen könnten, ihn zu überqueren. Warum er jedes Mal von Neuem auf das Eis trat, wusste Leif nicht. Es war wie ein innerer Zwang, dem er im Traum gehorchen musste. Bis das Eis splitterte und sich die Kälte um ihn schloss. Bis er den tonlosen Ruf aus der Tiefe vernahm. Lockend. Eine sanfte Berührung, die ihm ins Fleisch schnitt. Schwärze. Verzweiflung. Alles brodelte um ihn herum, die letzten Luftblasen verließen seinen Mund. Dann kam die Stille und mit ihr das Ende der Einsamkeit.
Kalter Schweiß brach Leif aus, während er stumm auf den See starrte. Er war umrandet von kargem Gestein, das durchsetzt war mit weiß leuchtenden Flecken aus Schnee. Er hörte nicht, was seine Kommilitonen mit Harkonsen besprachen. Ihr erleichtertes Lachen, nun, da sie endlich angekommen waren, nahm er nicht wahr. Das hier war ein Albtraum. Sein ganz persönlicher Albtraum, und Leif wusste mit grauenvoller Sicherheit, dass er nicht schlief.
Der Traum begleitete ihn seit langer Zeit, wenngleich er ihn in den letzten Jahren seltener heimgesucht hatte. Schon als Junge war er daraus hervorgeschreckt, schreiend und mit verheultem Gesicht. Und auch, wenn er sich das Weinen inzwischen fast gänzlich abgewöhnt hatte, schaffte es der Traum doch immer wieder, schwarzen Spinnweben gleich an ihm haften zu bleiben. Stunden, nachdem er erwacht war, fühlte er sich dann, als ob ein Teil von ihm noch dort unten in der Tiefe des Sees wäre.
Leif hatte kein Erlebnis gehabt, das auch nur annähernd den Geschehnissen in seinem Traum entsprach. Er schwamm nicht besonders gerne, obwohl er als Junge im Sommer viel Zeit am Weiher in der Nähe seines Heimatdorfes verbracht hatte. Doch seit dem Jahr, in dem die Träume begonnen hatten, hatte ihn der Gedanke an die trübe und dunkle Tiefe unter ihm mit leisem Unbehagen erfüllt.
Leif konnte sich nicht rühren. Er schlang die Arme um seinen Körper. Ihm war plötzlich furchtbar kalt. Sein Verstand versuchte zu greifen, was er sah, doch es gelang ihm nicht. Wie wenn man auf einem maroden Fahrrad sein Gewicht in die Pedale stemmt und diese unvermittelt nachgeben, schienen alle rationalen Gedanken an dem Bild des Sees vor ihm abzurutschen. Es war einfach nicht möglich...
Doch er erkannte die Landschaft wieder. Schwarze Felsen prägten das Bild, es gab keine Büsche oder Bäume. Nur Moos und struppiges Gras, das sich in die Felsspalten krallte. Vor allem aber kannte Leif das Gefühl der Ohnmacht, das der Anblick des Sees in ihm auslöste. Unausweichlich. Er hatte keine Chance. Hatte nie eine gehabt. Die Tiefe rief nach ihm, war schon ganz nah. Kein Entkommen.
Leif zuckte heftig zusammen, als sich eine Hand auf seine Schulter legte. Ein Körper an seiner Seite. Er konnte den Blick nicht vom See abwenden und doch wusste er, wer neben ihm stand.
»Das Eis auf dem See ist sehr dünn. Es trägt nicht einmal mehr das Gewicht der Gänse. Siehst du?«
Sam zeigte auf den See und tatsächlich, jetzt konnte Leif erkennen, dass die Oberfläche Schmelzlöcher aufwies.
Es war, als bräche ein Bann, der über Leifs Sicht gelegen hatte. Er blinzelte irritiert. Natürlich. Die Eisfläche war nicht geschlossen wie in seinem Traum. Und überhaupt... etwas vom Ufer entfernt konnte er eine Ansammlung blauer Plastikfässer ausmachen, die eng beieinanderstanden. Die gab es in seinem Traum auch nicht. Und die Felsen... wahrscheinlich hatte jeder dritte Felsen an einem See in Norwegen diese spitzen Zacken...
Mit einem Mal wurde er sich Samuels Nähe überdeutlich bewusst. Noch immer hatte er seine Hand auf Leifs Schulter und es war verrückt, wie gut sich diese Berührung anfühlte. Er stand nah an Leifs Seite, so nah, dass Leif seine Wärme spüren konnte. Zu dicht für einen Mann, der ihm im Grunde fremd war. Und viel zu nah für einen Mann, den Leif einmal geliebt hatte.
Mit einem unbehaglichen Laut machte sich Leif los. Erst jetzt merkte er, dass er zitterte. Er warf einen verunsicherten Blick zu Samuel, doch der blickte noch zum See hinab. Als hätte er Leifs Abwehr nicht bemerkt. Oder als sei sie ihm egal.
Der Rest ihrer Gruppe machte sich bereits an den Abstieg in die flache Talmulde, in der der See lag. Leif konnte Steffen lachen hören und Harkonsen eine Erwiderung rufen, die Leif nicht verstand. Ihre Stimmen hallten seltsam verzerrt von den umgebenden Hängen des Tals zurück. Einige aufgescheuchte Vögel flogen mit ärgerlichen Rufen davon.
»Es ist ein stiller Ort – eigentlich«, meinte Sam leise, als ob er zu sich selber spräche.
Dann wandte er den Kopf und lächelte Leif an.
»Ich komme gern hierher. Nicht ganz leicht im Winter. Dieses Jahr lag der Schnee hoch, kein Durchkommen für einige Wochen. Hab es auch noch nicht erlebt, dass der Speilhav jetzt noch Eis hat. War früher aber wohl häufiger so. Das Eis macht eure Arbeit wohl nicht leichter, hm?«
Leif starrte Samuel ungläubig an. Was redete der denn da? War das ein schräger Versuch von Small Talk?
Als Leif nicht antwortete, zuckte Sam mit den Schultern. Dann ging er den anderen hinterher.


Mit einem Schnaufen ließ sich Steffen neben Leif auf den Boden plumpsen. Seine hohen Gummistiefel, die in eine Fischerhose übergingen, waren nass, die Ärmel seiner Jacke hochgeschoben. Die rotblonden Haare auf seinem Unterarm glänzten im spätnachmittäglichen Licht.
»Gut gelaufen?«, fragte Leif.
Steffen grinste. »Kann nicht klagen. Na ja, einmal hätte ich fast den Abgang gemacht, als ich auf einem Stein weggerutscht bin, aber ansonsten bin ich zufrieden. Muss aber noch ein paar Proben fixieren.«
Steffen angelte nach seinem Tabakbeutel und begann, sich eine filterlose Zigarette zu drehen.
Schweigend blickten sie über das Ufer des Sees. Das dünne Eis hatte nun eine Fahrrinne, da Paul mit Harkonsen hinausgerudert war, um an einem mit einer Boje gekennzeichneten Punkt in der Mitte des Sees Wasserproben aus unterschiedlichen Tiefen zu sammeln. Das Ratschen eines Feuerzeuges ertönte und Leif wehte der Rauch der Zigarette um die Nase. Er mochte den Geruch, auch wenn er selbst nicht rauchte und auch den Geschmack fürchterlich fand. Aber an der frischen Luft war die erste Qualmwolke angenehm.
Leif hatte für seinen Teil der Arbeit weniger Proben fixieren müssen, dennoch lag jetzt eine schöne Sammlung an akkurat beschrifteten Glasbehältern in der Kühltasche, die Plankton und andere Mikroorganismen enthielten. Das Klemmbrett neben ihm war bekritzelt mit den Temperatur- und pH-Werten der Stellen, an denen er die Proben entnommen hatte. Ob die Proben aber wirklich etwas taugten, würden sie erst im Labor erfahren.
Das ruhige Arbeiten hatte Leif gutgetan. Zuerst hatte er sich dem See mit Vorsicht genähert. Sein Puls war zu schnell gewesen, die Handflächen feucht. Einer der Glasbehälter wäre ihm fast aus der Hand gefallen und auf den Felsen zerschellt. Aber je länger er sich am Wasser aufgehalten hatte, desto ruhiger war er geworden. Der See hatte nun nur noch eine entfernte Ähnlichkeit mit der eisigen Landschaft aus seinem Traum. Der Geruch nach Moos und feuchten Steinen gab ihm Sicherheit.
Er war zufrieden und legte den Kopf in den Nacken, um sich die Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen.
»Ist Harkonsens Angebot nicht der Hammer?«, meinte Steffen in das einvernehmliche Schweigen hinein.
»Welches Angebot?«, antwortete Leif und runzelte die Stirn, unwillig, seine Haltung aufzugeben. Neben ihm ertönte ein Schnauben.
»Allzu viel bekommst du gerade nicht mit, oder? Harkonsen hat gesagt, dass er anfragen wird, ob wir Vergleichsdaten der institutseigenen Messstationen der letzten dreißig Jahre nutzen dürfen.«
»Heilige Scheiße«, kommentierte Leif erstaunt und setzte sich auf. Nur, weil ihre Universität mit den Norwegern kooperierte, hieß das nicht, dass die Forscher bereitwillig ihre Rohdaten herausrückten.
»Wenn das klappt, kann der Dettmann gar nicht anders, als uns eine Eins Komma irgendwas zu geben«, grinste Steffen.
»Na, erst mal müssen wir selbst anständige Proben ziehen und den ganzen Dreck auch noch auswerten. Vom Schreiben mal ganz abgesehen«, dämpfte Leif Steffens Enthusiasmus. Besonders vor dem letzten Teil graute es ihm. Er war gut darin, biologische und chemische Analysen zu machen, seine Erkenntnisse in Worte zu verpacken, fiel ihm hingegen schwer. Außerdem war ihr betreuender Professor, Kornelius Dettmann, alles andere als freigiebig mit guten Noten.
Steffen blies die Wangen auf. »Manchmal bist du ganz ekelhaft pessimistisch.«
Leif zuckte mit den Schultern und beobachtete, wie Steffen einen weiteren Zug von seiner Zigarette nahm.
»Aber ich sag dir eines: Ich glaube, dass wir mit dieser Arbeit eine verdammt gute Note abstauben können, wenn wir keine Scheiße bauen. Und dann«, gestikulierte Steffen, »geht es für mich ab nach Südamerika!«
Leif grinste. Seit fast zwei Jahren plante Steffen schon seine Reise auf den fernen Kontinent und sparte Geld zusammen. Mindestens sechs Monate wollte er nach Abschluss seines Studiums von Venezuela bis nach Patagonien tingeln.
Steffen drückte den Stummel seiner Selbstgedrehten aus. »Hab ich dir schon erzählt, dass mein Alter mein Reisebudget verdoppelt, wenn ich seinen Notenschnitt von damals unterbiete?«, fragte er grinsend.
Leif stieß einen Pfiff durch die Zähne aus. »Und wo liegt der?«
»Eins Komma drei«, meinte Steffen lapidar. »Aber natürlich in Physik.«
»Das ist ja noch schlimmer!«, stöhnte Leif.
Nun war es an Steffen, mit den Schultern zu zucken. »Klar hat er rumgetönt, dass ich mit meinem Luschen-Studium eigentlich gar nicht mit seinen Noten in Vergleich treten dürfte, aber als ich ihm intellektuellen Snobismus vorgeworfen hab, hat er eingelenkt«, erklärte Steffen fröhlich.
Leif wusste, dass Steffen und sein Vater sich regelmäßig darüber beharkten, welches ihrer Studienfächer anspruchsvoller war. Aber es war eine mit liebevoller Sturheit geführte Diskussion, keine düstere Rede, wie er selbst sie so oft zu hören bekommen hatte. »Mein Vater sagt mir noch heute bei jedem Besuch, dass ich studiere, um am Ende als promovierter Taxifahrer zu arbeiten«, meinte er tonlos.
»Scheiß Ansage«, kommentierte Steffen.
»Hm«, druckste Leif und grub den Absatz seines Stiefels fester in den Boden. Er straffte sich merklich. »Sag mal, was ich dich schon immer fragen wollte: Warum hängst du eigentlich nicht mit Tanja und den anderen Cracks rum? Ich meine, dein Notenschnitt wäre gesichert, wenn du mit besseren Leuten zusammenarbeiten würdest, statt mit Paul und mir.«
»Aber meine geistige Gesundheit nicht«, murrte Steffen halb entrüstet, halb belustigt. »Ich meine – Tanja-hast-du-schon-den-letzten-Artikel-in-dem-International-Society-of-Limnology-Journal-gelesen-Meierhof? Nein, wirklich nicht!« Er schüttelte sich wie ein junger Hund.
Leif grinste, zog die Knie an den Körper und legte das Kinn darauf ab. Sie waren schon ein seltsames Dreiergespann. Während Paul und er bereits in der ersten Studienwoche gemeinsam über den Campus geirrt waren, hatten sie sich erst nach dem Grundstudium über ein gemeinsames Praktikum im Labor mit Steffen zusammengetan. Davor hatte Leif ihn als zu langweilig und auch zu spießig empfunden, als dass er sich näher mit ihm beschäftigt hätte.
Er hatte ihn für einen lahmen Streber gehalten. Sein erster Eindruck hatte ihn gehörig getäuscht, denn hinter der ruhigen Fassade wohnte ein wacher Geist mit einem großen Herzen. Vor allem aber war Steffen unerschütterlich loyal, wenn er einen Menschen erst einmal zum Freund ernannt hatte.
Die ruhige und freundliche Art schien bei Steffen in der Familie zu liegen. Letzten Herbst hatte Leif Steffens Vater kennengelernt und auch bei diesem entdeckt, dass Freundlichkeit nicht mit Langweiligkeit gleichzusetzen war. Vater und Sohn teilten denselben bösen Humor, der sich nur in leisen Bemerkungen am Rande manifestierte, aber meistens genau ins Schwarze traf.
Bei aller Sympathie war auch etwas in Leif hochgekrochen, das wie Sehnsucht schmeckte, als er sah, wie die beiden miteinander umgingen. Ja, sein eigener Vater konnte auch freundlich und aufgeschlossen sein. Er konnte scherzen und selbst Tadel in einem wohlwollenden Ton hervorbringen. Nur hatte er es Leif gegenüber nie getan.


Sommer 1997

»Das traust du dich nie!«, prustete Sam.
Triumphierend hielt er den Apfel, von dem er gerade abgebissen hatte, in die Höhe. Saft lief ihm übers Kinn und kleine Apfelstückchen flogen ihm bei seinem Ausruf aus dem Mund. Leif wusste nicht, ob er lachen oder wütend sein sollte. Er wusste genauso gut wie Sam, dass er Schiss vor Höhen hatte. Gut, der Apfelbaum im Garten war nicht wirklich hoch, er war sogar deutlich niedriger als der Baum, in dem ihre Väter vor einigen Jahren das Baumhaus errichtet hatten, aber aus irgendeinem Grund, der Leif schleierhaft war, ängstigte ihn das freie Klettern in den Ästen.
Er war sauer auf Sam, weil dieser ihn damit ärgerte. Gleichzeitig wusste er, dass sein Freund es nicht böse meinte. Nein, Sam würde sogar noch weiter hochklettern, um ihm einen besonders schönen Apfel mitzubringen.
Leifs Magen knurrte leise. Natürlich hätten sie auch reingehen können, um sich etwas zu essen zu holen, doch das hätte ihrem Spiel ein Ende bereitet. Die niedrig stehende Sonne verriet Leif auch so, dass Sams Mutter ihn bald nach Hause rufen würde.
Im Ort waren Leif und Sam bekannt dafür, allerlei Unsinn anzustellen und sich mit Vorliebe in den Gärten und Schuppen der Nachbarn herumzutreiben, in denen sie nichts zu suchen hatten. Oft genug waren sie in Situationen gekommen, von denen sich Leif nicht erklären konnte, warum er sich wieder von Sam hatte überreden lassen, so einen Bockmist zu bauen. Natürlich stellte sich Leif diese kritischen Fragen erst dann, wenn er glaubte, seine Lungen würden explodieren, weil sie den Hund von Bauer Schwertmann einmal zu oft geärgert und dabei übersehen hatten, dass die hohe Gartenpforte offen stand.
Wütend ballte Leif die Hände an seinen Seiten zu Fäusten. Er wollte nicht dastehen wie ein Feigling. Dass Sams Kommentar viel zu nah an der Wahrheit lag, verschlimmerte die Sache noch. Gleichzeitig flüsterte seine innere Stimme ihm zu, dass es unvernünftig war, auf den Baum zu klettern. Sein Vater hatte sie davor gewarnt, weil die heftigen Gewitter des vergangenen Wochenendes die alten Äste brüchig gemacht hatten. Leif mochte diese Stimme der Vernunft nicht. In Wahrheit war sie seine Feigheit, die die Worte der Erwachsenen nutzte. Worte, die Sam nicht gelten ließ.
»Komm doch, komm doch!«, feixte Sam in einem nervtötenden Singsang, pflückte einen noch unreifen Apfel und warf ihn nach Leif. Der musste nicht mal ausweichen, denn Sam hatte nicht richtig gezielt. Der Apfel prallte mit einem hohlen Geräusch auf den von langem Gras bedeckten Boden und blieb vor Leifs Füßen liegen. Am liebsten hätte er ihn Sam an den Kopf geworfen. Und Leif hätte nicht danebengezielt.
Er schnaufte leise, dann ging er zum Stamm und legte entschlossen die Hand auf den Aststumpf, der es einem mit etwas Anstrengung und Geschick ermöglichte, auf den Baum zu klettern. Noch vor einem Jahr hatten weder er noch Sam den Ast erreicht, aber sie beide waren in den letzten Monaten so sehr gewachsen, dass Samuels Mutter mit dem Abändern seiner Hosen kaum hinterherkam.
Sam lachte hell auf und vertrieb damit Leifs düstere Gedanken. Und obwohl Leif noch sauer auf ihn war, konnte er sich ein Grinsen nicht verkneifen. Blödkopf. Dem würde er es zeigen! Er durfte einfach nicht nach unten sehen, damit die Tiefe nicht diesen seltsamen Sog entwickelte, der ihm schwindlig werden ließ. Beim Baumhaus klappte es ja auch, wenn er erst mal auf der sicheren Plattform stand.
Ein weiterer Apfel kam auf ihn zugeflogen, klein und grün.
»Das wirst du büßen!«, rief Leif, während er sich auf die erste große Astgabel hievte.
Hier hatte er noch kein Problem, die Äste waren knorrig und dick genug, sein Gewicht zu tragen. Die raue Rinde schabte über die Haut am Knie, als Leif sein Gewicht verlagerte und sich vorsichtig aufrichtete, um einen breiteren Ast zu fassen zu bekommen, an dem er sich festhalten konnte.
Zittern und ein Rascheln verrieten ihm, das Sam sich weiter bewegte, um genügend Abstand zwischen sie zu bringen. Leif wurde leicht flau. Er schluckte und zwang sich, nicht nach unten zu sehen. Stattdessen konzentrierte er sich auf seine Hände, die den Ast fest umschlossen hielten. Seine Fingerknöchel traten weiß hervor. Innerlich verfluchte Leif sich und seinen blöden Stolz. Warum ließ er sich immer von Sam foppen? Und die dummen Äpfel waren immer noch zu weit weg, zumindest die guten.
Erneut zitterte der Baum, dann ertönte ein Knacken, bei dem ihn eine Gänsehaut überlief. Sam hatte sich weit nach oben vorgewagt, der Ast unter seinen Füßen war lächerlich schmal.
»Oh-oh.« Selbst jetzt noch war der Schalk nicht gänzlich aus Sams Stimme gewichen.
»Sam, verdammt, komm zurück! Der Ast ist zu dünn!«
Leif erstarrte. Nur zu deutlich spürte er die Tiefe unter sich. Es waren vielleicht nur zwei bis drei Meter, aber auch aus dieser Höhe konnte ein Sturz wirklich schmerzhaft sein.
Wie es nicht anders zu erwarten gewesen war, ignorierte Sam sowohl die Gefahr als auch Leifs Bitte. Er hangelte nach einem Apfel, dessen eine Hälfte im warmen Licht rot glänzte.
Schneewittchenapfel, kam es Leif in den Sinn.
Leif hörte ein Knarzen, dann ein Splittern und Krachen. Sam schnappte hörbar nach Luft, als der Ast unter seinen Füßen nachgab. Ein Ruck lief durch seinen Körper, als er nach unten sackte und nur noch mit einer Hand am Ast baumelte. Nach einem bedrohlichen Knacken entschied sich Sam loszulassen.
Leif konnte nicht verhindern, dass er kurz die Augen zusammenkniff, als sein Freund fiel. Mit einem dumpfen Aufprall landete Sam im Gras und blieb regungslos liegen.
»Sam! Alles okay?«
Stille. So schnell es ging, kletterte Leif den Baum hinunter und lief mit wackligen Knien zu Sam, der flach auf dem Rücken lag. Eine kleine Schramme zierte seine Wange, seine Augen waren geschlossen.
»Sam?«
Leicht rüttelte Leif seinen Freund an der Schulter. Sein Herz klopfte zum Zerspringen. Mist, Mist, Mist!
»Komm schon, Sam.«
Hektisch blickte Leif sich um. Weder Samuels Mutter noch einer der Nachbarn war zu sehen. Leifs Mutter war mit Tilda bei dem Geburtstag einer Kindergartenfreundin. Einmal brauchte man einen Erwachsenen und dann war keiner da! Leif beugte sich über Sam und legte seine Hand auf dessen Brust und fühlte den schnellen Herzschlag. Für einen kurzen Augenblick durchströmte Leif Erleichterung, dann erschreckte er sich zu Tode, als Sam mit einem Wahhrrr! auffuhr und ihn packte. Er hatte kaum Zeit zu reagieren, da war Sam schon über ihm. Wild strampelte Leif und versuchte sich zu befreien.
»Du scheiß Pisser!«
Sie rollten sich durchs Gras, Leif fluchend und Sam lachend. In seiner Wut sprang Leif nicht gerade zimperlich mit Sam um. Ein harter Schlag in die Seite trieb seinem besten Freund das Lachen aus dem Gesicht.
»Au! Hör auf!«
Leif grunzte nur und nutzte seine momentane Überlegenheit, um Sam die Arme an den Seiten festzuhalten. Er war etwas größer und schwerer als sein Freund, doch nur selten schaffte er es, bei ihren Rangeleien die Oberhand zu gewinnen. Sam konnte sich winden wie ein Aal.
»Gibst du auf?«
Samuels Antwort bestand darin, wild gegen ihn anzukämpfen. Mühsam hielt Leif ihn auf den Boden gepresst. Er atmete schwer, und doch rauschte Siegesgewissheit durch ihn hindurch.
»Ich lass dich nicht eher los«, japste Leif, »bis du es sagst.«
Samuels braune Augen funkelten ihn zwischen seinen zu Schlitzen verengten Lidern an. Dann stieß er ein Schnaufen aus und gab seine Gegenwehr auf. Misstrauisch blickte Leif auf seinen Freund hinab. Seine Finger lockerten sich nicht, noch nahm er sein Gewicht von dem Körper unter ihm.
Fordernd hob er eine Augenbraue. Das war eine Sache, auf die er mächtig stolz war, auch, wenn er es niemals zugeben würde. Er hatte monatelang geübt, bis es ihm gelang, die rechte Braue deutlich emporzuziehen. Leif wusste, dass Sam ihn darum beneidete.
»Du bist ein Idiot.«
Leif grinste und rollte sich von Sam hinunter. Es roch nach Gras und Äpfeln und ein klein wenig nach ihrem Schweiß. Die letzten Sonnenstrahlen kitzelten seine Nase und Leif war rundum zufrieden.


Später am Abend war die friedliche Müdigkeit, die Leif dort auf dem Rasen gespürt hatte, einem nagenden Gefühl in seinem Magen gewichen. Sein Vater war von der Arbeit nach Hause gekommen und bei seiner abendlichen Zigarette auf der Terrasse war ihm natürlich der lädierte Apfelbaum aufgefallen.
»Kannst du nicht einmal machen, was ich dir sage? Ist das so schwer? Dir hätte etwas passieren können! Oder Samuel! Und der Baum sieht schlecht aus, es könnte gut sein, dass wir ihn abholzen müssen, denn so übersteht er den nächsten Sturm bestimmt nicht, geschweige denn den Winter.« Wütend schüttelte Leifs Vater den Kopf. »Du hast eine Woche Hausarrest.«
Leif hatte bei der Strafpredigt den Kopf gesenkt, doch nun schnellte sein Blick nach oben. Das konnte sein Vater doch nicht machen! Das war fast der ganze Rest der Sommerferien. Was sollte er denn hier drinnen, ohne seine Freunde, ohne Sam? Seine Eltern waren streng, aber Hausarrest wegen eines abgebrochenen Astes? Das war selbst für seinen Vater hart.
»Aber...«
Sein aufkeimender Protest wurde durch einen Blick seines Vaters erstickt. »Du musst endlich begreifen, dass deine Aktionen auch Konsequenzen haben! Immer wieder stellen du und Sam was an, die Nachbarn beschweren sich über euch. Und gerade Kari machst du es dadurch noch schwerer.«
Leifs Vater atmete tief ein und verschränkte die Arme vor der Brust. Bei seiner Strafpredigt hatte er Leif mit stechenden Blicken bedacht, nun wandte er sich ab und seine Schultern sackten merklich nach vorne.
»Ich bin enttäuscht von dir, Leif.«
Leif wusste, dass er nun gehen konnte. Fast alle Standpauken seines Vaters endeten mit diesem Satz, ob sie nun schlechte Noten betrafen oder die Dinge, die er und Sam mal wieder angestellt hatten. Und wie jedes Mal schienen ihn diese Worte einzuschnüren.
Leif protestierte nur noch selten, wenn sein Vater ihn ausschimpfte. Er erwähnte auch nicht, dass Sam es gewesen war, der den Ast abgebrochen hatte. Ja, das wäre Petzen gewesen, doch hätte Leif damit etwas erreicht, wäre sein Vater dann milder gestimmt gewesen... er wäre versucht gewesen, Sam anzuschwärzen. Doch Leif wusste, dass nichts seinen Vater davon abbringen konnten, von ihm enttäuscht zu sein. Wieder einmal.



Am nächsten Abend fand Leif sich in einer ähnlichen Situation wieder, nur mit Sam an seiner Seite. Der hatte ihn davon überzeugt, dass sie noch mal gemeinsam mit seinem Vater reden sollten. Sie hatten heimlich durch das gekippte Küchenfenster gesprochen. Sam hineinzuschmuggeln, hatte sich Leif nicht getraut.
Abwartend sah Leifs Vater die Jungen an. Leif bemerkte, wie sich Sam neben ihm aufrichtete.
»Es ist nicht gerecht, dass Leif Hausarrest bekommt. Ich bin als Erster auf den Baum geklettert und ich war es, der den Ast abgebrochen hat.«
Trotz funkelte in Samuels Augen. Leifs Vater schürzte die Lippen.
»Ist das wahr, Leif?«, fragte er.
Leif nickte zögernd.
»Und warum hast du mir das nicht gesagt?«
»Du hättest mir doch eh nicht geglaubt«, rutschte es Leif heraus.
Mist! Er hätte etwas anderes antworten sollen, vielleicht, dass er nicht petzen wollte. Denn diese Antwort verärgerte seinen Vater. Er konnte es an dem harten Zug um seinen Mundwinkel sehen, an den zusammengezogenen Augenbrauen.
»Und was schlägst du nun vor, Samuel? Denn immerhin hat Leif ja mitgemacht. Und Bescheid gegeben, dass der Baum beschädigt ist, hat er auch nicht.«
»Ich hab's vergessen!« Leifs Wangen färbten sich rosa, er ballte die Hände zu Fäusten. Er hasste es, wenn sein Vater über ihn sprach, als sei er nicht anwesend.
Sam neben ihm ignorierte seinen Einwurf genauso wie sein Vater. »Es ist ungerecht. Wenn, dann müsste ich Stubenhocken«, beharrte er.
»So, wie ich deine Mutter kenne, würde sie das nicht befürworten«, sagte Leifs Vater und kurz erschien die Andeutung eines Lächelns auf seinem Gesicht.
Leif fragte sich, warum seine Mutter eigentlich nichts gegen die Entscheidung seines Vaters gesagt hatte. Es war nicht so, dass sie sich von ihm herumkommandieren ließ. Also waren sie wohl beide enttäuscht von ihm. Ein schweres Gefühl breitete sich in seinem Magen aus.
»Dann denken Sie sich eben eine andere Strafe für mich aus«, forderte Sam.
Leif hätte nie in einem solchen Ton mit seinem Vater gesprochen und er glaubte nicht, dass dieser Sam seine Frechheit durchgehen lassen würde. Sam machte alles nur noch schlimmer!
In Erwartung des kommenden Donnerwetters sah Leif zu seinem Vater hoch. Doch er musste überrascht feststellen, dass dieser grinste.
»Na gut. Ich werde Bauer Schwertmann fragen, ob ihr ihm zur Hand gehen könnt. Ihr werdet ihm eine Woche helfen, die Tiere füttern, Streuobst sammeln, was weiß ich. Und wenn mir zu Ohren kommt, dass ihr euch auch nur eine einzige Dummheit leistet, seht ihr euch die nächsten zwei Monate außerhalb der Schule gar nicht mehr.«
Leif schluckte. Der alte Schwertmann war nicht gerade gut auf sie zu sprechen, zu oft schon hatten sie Unfug auf seinem Hof und den Obstwiesen angestellt. Das würde kein Zuckerschlecken werden, da war er sich sicher.
Prüfend wurden sie von Leifs Vater gemustert.
»Also, Samuel, ist das eine Strafe nach deinem Geschmack?«, fragte er lauernd.
»Das ist ganz schön hart.« Sam hob beschwichtigend die Hand, als Leifs Vater auffahren wollte. »Aber ich denke, es ist in Ordnung.«
Leifs Vater lachte laut auf und die ärgerliche Spannung fiel von ihm ab. Er trat zu Sam und wuschelte ihm mit der Hand durch die Haare, dann gab er Leif einen kleinen Schubs.
»Ab mit euch. Und ab morgen helft ihr dem Bauern!«, rief er ihnen hinterher, als sie schon aus dem Wohnzimmer rannten. Leif blickte nicht zurück, froh, seinem Vater und seinen strengen Augen entronnen zu sein.






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»Hey ihr Faulpelze! Ihr könntet euch mal nützlich machen«, riss Pauls Stimme Leif aus seinen Erinnerungen.
Er blinzelte und Steffen neben ihm schnaubte eine Rauchwolke. Paul stand am Kopfende des Schlauchbootes, das die letzten Meter bis zum felsigen Ufer glitt. Harkonsen hatte ihnen den Rücken zugedreht und trieb das Boot mit sachten Ruderschlägen voran.
»Wir durchdenken hier wichtige wissenschaftliche Probleme«, konterte Steffen.
»Hör auf zu quatschen und fang lieber das Seil!«, rief Paul.
Mit einem gemurmelten Fluch erhob sich Steffen und kletterte ungelenk über die Felsen. Mit Gummistiefeln war das wirklich kein Vergnügen. Auch Leif half dabei, das Boot anzulanden und die Wasserproben entgegenzunehmen.
Paul und Steffen hatten noch genug mit dem Fixieren ihrer Proben zu tun, sodass Leif Harkonsen und Sam zur Hand ging, die gebrauchte Geräte reinigten und in den Fässern verstauten. Danach machten sie sich an den Aufbau ihres Lagers.
Eine gute Stunde später waren ihre Zelte aufgestellt und Samuel hatte einen Gaskocher und Campinggeschirr ausgepackt. Auf ein wärmendes Lagerfeuer mussten sie hier oben wegen des Mangels an Holz verzichten. Drei Packungen mit Nudeln und Soßenpulver wurden mit Seewasser aufgesetzt und langsam erhitzt. Bis auf einen Müsliriegel hatte Leif nichts mehr gegessen, sodass sein Magen laut knurrte, als sich der Geruch des Essens verbreitete. Sam, der zusammengekauert neben dem Gaskocher hockte, blickte auf und grinste ihn an.
Leif war froh, als sich die anderen dazugesellten. Die ersten Minuten ihrer Mahlzeit verbrachten sie in gefräßigem Schweigen. Als der gröbste Hunger gestillt war, tauschten sie sich über ihre Ergebnisse beim Sammeln der Proben aus. Wie es schien, hatte vor allem Paul einen lustigen Nachmittag auf dem See verbracht, da Harkonsen ihn mit allerlei Geschichten der Expeditionen zum Speilhav unterhalten hatte.
Auf allgemeine Forderungen gab Harkonsen einige der Anekdoten zum Besten. Von verschluderten Proben und ins Wasser gefallenen Wissenschaftlern, von verdrehten Werten und daraus folgender Verwirrung und von einem Vielfraß, der in der Nacht die Lebensmittel des Lagers geplündert und überall seine übelriechenden Duftmarken hinterlassen hatte – so auch auf Harkonsens Fleecejacke, die er zum Trocknen auf einen Felsen gelegt hatte.
Die Zeit verflog, während Harkonsen erzählte. Die Kälte kroch heran, sie setzten noch einen Tee auf und wickelten sich fester in ihre Jacken. Paul holte unter Leifs spitzen Bemerkungen sogar seinen Schlafsack hervor und mummelte sich darin ein. Sie lauschten interessiert den Geschichten über Trolle und Verwandlungen, zu denen Harkonsen übergegangen war, während die Nacht über sie hereinbrach. Irgendwann hatte Harkonsen genug davon, den Alleinunterhalter zu mimen.
»Nei, nun seid ihr dran!«, wehrte er lachend ihre Forderungen nach mehr Geschichten ab.
»Samuel, du kennst doch bestimmt noch mehr Geschichten?«, fragte Steffen. »Euch Norwegern liegt das Geschichtenerzählen doch angeblich im Blut, oder?«
Sam war den Abend über still gewesen, hatte aber oft in seinen Teebecher gegrinst, wenn sie sich mit ihren Kommentaren zu den Trotteligkeiten vorheriger Expeditionsteilnehmer überschlagen hatten. Nun sah er Steffen einen Moment perplex an, dann verschloss sich seine Mimik.
»Nein, ich kenne keine Geschichten«, sagte er und schüttelte bedauernd den Kopf, ehe er sich erhob, um das dreckige Geschirr einzusammeln
Du lügst, dachte Leif.

»Doch als die Leute aus dem Dorf das Grab erneut öffneten, um der jungen Mutter ihr totes Baby in die Arme zu legen...«
Die Taschenlampe beleuchtete Samuels Gesicht nur unzureichend und verzerrte seine Züge zu einer hässlichen Fratze.
Leif saß ihm gegenüber im Bett, die Decke bis zu den Ohren hochgezogen. Draußen schüttelte ein Herbststurm die kahlen Äste, sodass sie manchmal mit einem fiesen Quietschen über die Fenster kratzten.
»... da waren ihre Kleider zerrissen und ihre Finger blutig gekratzt«, flüsterte Sam mit leiser Stimme.
Eine Gänsehaut überzog trotz des warmen Nestes, das sie aus Decken und Kissen gebaut hatten, Leifs Unterarme. Es war ihm etwas peinlich, aber er fürchtete sich wirklich. Nicht vor der Geschichte von der lebendig begrabenen Frau, denn er kannte sie, immerhin erzählte Sam sie nicht zum ersten Mal. Außerdem war er schon zwölf, da musste man sich vor so etwas nicht mehr fürchten. Vielleicht lag es an Samuels Stimme, die so seltsam wisperte, und an der Taschenlampe, die seine Augen zu schwarzen Höhlen werden ließ, aber niemand konnte so gut Gruselgeschichten erzählen wie sein bester Freund.
Leif liebte es, wenn Sam erzählte, und dieser tat es gern. Gruselige und fantastische Geschichten vor allem. Oder Geschichten über Leute, die sie kannten. Manchmal fragte er sich, ob ein paar von Samuels Hirngespinsten nicht doch wahr sein könnten. Ob Herr Kalbfleisch, der Sportlehrer mit Schnauzbart und Plauze, nicht in Wirklichkeit ein unentdeckter Held war, der verkleidet und mit Superkräften ausgestattet Menschenleben rettete.
Der Gedanke, dass auch all die Gruselwesen, von denen Sam so gern erzählte, echt sein könnten, bescherte Leif ein Schaudern. Er mochte keine Monsterinsekten, deren Münder von wild zuckenden Tentakeln umwachsen waren. Ebenso verhielt es sich mit hämisch kichernden Schatten, die zu niemandem zu gehören schienen.

»Komm, lass uns auch schlafen gehen.«
Harkonsen und Steffen waren Samuels Beispiel gefolgt und auch Leif erhob sich ein wenig steif. Er war müde und fror. Samuel wusch gemeinsam mit Steffen das Geschirr in einem kleinen Plastikzuber ab. Paul bemerkte Leifs Blick, der auf Samuel lag und legte seinen Arm um Leifs Hüfte.
»Verstehen sich ganz gut, die zwei«, meinte er leise.
Leif zuckte unbestimmt mit den Schultern. Schon möglich, obwohl er Steffen eigentlich für etwas zu nerdig hielt, als dass er Sam wirklich interessieren konnte. Im nächsten Moment schalt er sich für den Gedanken. Was wusste er schon von Sam? Und was ging es ihn an, mit wem er sich anfreundete? Nichts und noch mal nichts.
»Bin jedenfalls froh, dass ich mir kein Zelt mit Steffen teilen muss, bei seinem Geschnarche«, sagte Leif.
Pauls Arm zog ihn etwas dichter zu sich heran. »Ich für meinen Teil bin froh, mein Zelt mit dir zu teilen.«
Leif verdrehte die Augen und lachte. »Mach dir keine Hoffnungen, mein heterosexueller Freund. Ich bin zu alt für Sex beim Camping.«
»Schade«, seufzte Paul in gespieltem Bedauern und fing sich dafür einen Schubs von Leif ein, der ihn in Richtung Zelt beförderte.
Aus dem Augenwinkel sah Leif, dass Harkonsen unbemerkt schräg hinter ihnen stand. Im Gegensatz zu seinem heiteren Lachen am Lagerfeuer lag nun ein ernster, fast grimmiger Zug um seinen Mund. Kurz fragte sich Leif, ob er genug Deutsch sprach, um Pauls anzügliches Geplänkel zu verstehen. Leif hoffte inständig, dass sich hinter Harkonsens freundlichem Auftreten nicht doch ein homophobes Arschloch verbarg. Ein unangenehmer Schauer rann ihm bei diesem Gedanken über den Rücken. Er wandte sich hastig ab und ging Paul hinterher.


Unruhig drehte sich Leif auf die Seite und versuchte, Paul dabei nicht zu wecken. Sein Schlafsack rutschte auf der Isomatte umher, der Pullover, den er als Kopfkissen nutzte, drückte unangenehm an einer blöden Stelle und nervte ihn zu Tode. Graues Dämmerlicht drang durch die Zeltwände. Leif warf einen Blick auf die Uhr, deren Zeiger grüngelblich schimmerten. Fast halb fünf, noch eineinhalb Stunden, in denen er schlafen konnte… und sollte. Er ruckelte sich zurecht und versuchte, sich zu entspannen. Vergeblich.
Leif fluchte leise. Er war von der vorherigen Nacht und dem anstrengenden Tag vollkommen gerädert. Eine weitere Nacht, die durchsetzt war mit düsteren Träumen und darauffolgender Schlaflosigkeit, war wirklich das Letzte, was er gebrauchen konnte. Doch wie es aussah, gestaltete sich diese Nacht genauso wie die vorige. Leif hatte bereits vor dem Einschlafen geahnt, dass er im Traum ertrinken würde. Immerhin war es ein ziemlicher Schock gewesen, als er den See erblickt hatte, der dem aus seinem Traum so verdammt ähnlich gesehen hatte.
Es half leider nicht, dass Leif im wachen Zustand wusste, dass es sich um einen Traum handelte. Jedes Mal aufs Neue litt er Todesängste. Er war mit einem lauten Keuchen aufgewacht, orientierungslos. Hatte Paul aus dem Schlaf gerissen, der erst nicht verstand, was geschehen war. Als Paul begriffen hatte, dass ihr Zelt gerade nicht attackiert wurde, hatte er sich mit einem Stöhnen zurück auf die Isomatte fallen lassen. Leif hingegen war sitzen geblieben, sein Blick war unstet im dunklen Zelt umhergeirrt, als wollte er sich vergewissern, wach zu sein.
Erst, als Paul mit einem leisen Brummeln die Hand nach ihm ausgestreckt und einfach auf seinem Schlafsack liegen gelassen hatte, war Leif ruhiger geworden. Der Traum suchte ihn nie mehr als einmal in einer Nacht heim. Dennoch war sein Schlaf danach ruhelos gewesen, als hätte sein Geist Muskelkater von seinem imaginären Todeskampf.
Leise richtete sich Leif auf und rieb sich den schmerzenden Nacken. Der Schlafsack rutschte von seinen Schultern und ließ ihn frösteln. Er wollte Paul nicht ein zweites Mal wecken, also griff er sich den als Kopfkissen untauglichen Pullover und streifte ihn sich über. Der Reißverschluss des Zeltes sirrte, frische Nachtluft schlug ihm ins Gesicht. Hinter ihm murmelte Paul etwas im Schlaf und Leif beeilte sich, das Zelt zu verlassen. Seine Wanderstiefel waren eisig, als er hineinschlüpfte und die verknäulten Schnürsenkel einfach in den Schaft schob.
Über ihm spannte sich der Himmel in einem tiefen Kobaltblau. Hinter den östlichen Bergen wurde es bereits hell, doch hier in der Senke herrschte noch graues Zwielicht. Dementsprechend vorsichtig bewegte sich Leif, als er hügelaufwärts eine Stelle suchte, an der er sich erleichtern konnte. Als er zu den drei geduckten Zelten zurückkehrte, konnte er Steffens Schnarchen vernehmen.
Mit einem Seufzen blickte Leif in Richtung des Sees und erstarrte, als er bei einigen höheren Felsen in der Nähe des Wassers eine Bewegung wahrnahm. Etwas Großes schlich dort umher. Unwillkürlich fragte er sich, ob es hier oben, fernab von größeren Wäldern, nicht doch Wölfe oder Bären gab. Und was zu tun wäre, im Falle der Fälle. Seine Überlegungen wurden unterbrochen, als sich der dunkle Schemen auf einem der Felsen aufrichtete. Seine Erleichterung wich leisem Unbehagen, als er Samuels Umrisse erkannte. Er war versucht, in sein Zelt zurückzukehren und sich weiter mit schmerzendem Rücken auf der Isomatte umherzuwälzen.
Leif schalt sich einen Feigling, dann suchte er sich kurz entschlossen einen Weg zum See hinunter. Obwohl das Ufer kaum mehr als zwei Steinwürfe entfernt war, kam ihm der Weg lang vor. Er war sich sicher, dass Samuel ihn schon längst bemerkt hatte, denn Geröll und Kies rutschten manchmal unter seinen Füßen weg und rollten mit leisem Klacken weiter. Dennoch drehte er sich nicht um, als Leif den mannshohen Felsen emporkletterte und sich neben ihn setzte.
Es war eine schöne Stelle, um auf den See hinaus zu blicken. Samuel hatte die Knie aufgestellt und die Arme darum geschlossen. Leif tat es ihm gleich und musste sich zwingen, nach vorne auf die ihn umgebende Landschaft zu sehen.
Es war verlockend, Sam zu betrachten. Seine Züge im Zwielicht zu erforschen, wie Leif es schon als Teenager getan hatte, wenn der andere still neben ihm schlief. Er könnte Vergleiche anstellen, sich auf die Suche begeben nach dem, was von dem Jungen übrig geblieben war, den er geglaubt hatte zu kennen wie keinen anderen Menschen.
Sie schwiegen lange und beobachteten, wie die Helligkeit hinter den Bergen zunahm. Es war ein seltsam einträchtiges Schweigen und das erste Mal verspürte Leif in Samuels Gegenwart nicht den Impuls davonzulaufen. Oder ihm die Fresse zu polieren. Vielleicht war es diese Stimmung, die ihn genug Mut fassen ließ.
»Hey...«, begann Leif ungelenk.
»Hör zu, ich...« Samuels Stimme war viel zu laut in der Stille. »Was damals passiert ist...«
Ein heißer Schwall Panik kochte in Leif auf, sodass er Sam ins Wort fiel.
»Nein, hör du mir zu. Ich will nicht darüber reden, okay?«
Sam wandte das erste Mal den Kopf und sah Leif erstaunt an. Dieser starrte angestrengt geradeaus. Es war ihm selbst nicht bewusst gewesen, aber – er wollte wirklich nicht über ihre Trennung sprechen.
»Aber...«
Vehement schüttelte Leif den Kopf.
»Ich mein das ernst. Lass uns... Können wir nicht einfach Small Talk machen oder so?«
Sam schnaubte leise und der Laut kroch Leif unter den Pullover. Wie eine kleine Ratte, die Zuflucht in seinem Ärmel suchte und seinen Arm hinauflief.
»Und über was willst du dann sprechen?«, fragte Sam und die Belustigung schwang in seiner Stimme mit.
Die Ratte hatte Leifs Schlüsselbein erreicht. Er zuckte mit den Schultern, als ob er sie damit loswerden könnte.
»Keine Ahnung... Warum bist du hier? Was macht deine Mutter? Geht es ihr gut? Magst du immer noch keinen vergammelten Fisch?«
Jetzt lachte Sam und Leif konnte nicht anders, als ihn anzusehen. Die Ratte rutschte seine Brust hinab zu seinem Bauch und zappelte.
»Nein, ich kann Rakfisk immer noch nichts abgewinnen. Widerlich!«
Sam gluckste leise, dann wurde er wieder ernst.
»Kari geht es gut. Sie hat noch mal geheiratet, vor drei, nein, vier Jahren. Wusstest du das?«
Leif schüttelte den Kopf. Seitdem Samuels Mutter zurück nach Norwegen gezogen war, war der Kontakt der beiden Familien gänzlich abgerissen. Dabei hatten sie sich einmal sehr nahegestanden. Samuels und seine Eltern hatten sich erst ein gutes Jahr vor ihrer Geburt kennengelernt. Trotz des Altersunterschiedes – Samuels Eltern hatten sehr jung geheiratet – hatten sie sich schnell angefreundet. Dieser Freundschaft verdankte Leif seinen Namen, denn eigentlich hatte Samuel ihn bekommen sollen – und anders herum.
Kurz fragte sich Leif, ob ihre Bindung deswegen so eng gewesen war. Er blinzelte irritiert. Er war kein spiritueller Mensch, glaubte nicht an Übersinnliches und hatte auch nichts für fantastische Geschichten übrig. Nicht mehr.
Samuel rutschte etwas auf dem Stein umher und streckte sich, sodass er die Beine über den Rand des Felsens baumeln lassen konnte.
»Ich glaube, sie ist glücklich«, sagte er leise, dann lächelte er. »Ja, bestimmt. Aslak ist ein guter Mann. Sie leben unten bei Stavanger im Haus meines Großvaters.«
Leif erinnerte sich verschwommen an Urlaubsfotos der Wahlstroms, auf dem ein weißes Haus mit dunklen Fensterrahmen zu sehen war, umgeben von einem großen Garten. Er gönnte Kari Wahlstrom ihr spätes Glück. Sie hatte es sicher mehr als verdient. Samuels Mutter war eine sanfte Frau, die stets ein leichtes Lächeln auf den Lippen getragen hatte. Leif konnte sich nur noch verschwommen daran erinnern, denn sie hatte ihr Lächeln kurz vor Samuels sechstem Geburtstag verloren.
Samuels Vater, Andreas Wahlstrom, starb mit nur sechsundzwanzig Jahren an Herzversagen. Leif erinnerte sich noch genau an den Widerschein der Lichter des Krankenwagens auf Karis tränennassen Wangen. Ein kalter Morgen war es gewesen, als die völlig aufgelöste junge Frau an ihrer Haustür Sturm geklingelt hatte.
Leif dachte daran, wie Samuels Mutter sich an ihren Sohn geklammert hatte, ihre Hand viel zu fest in sein dunkles Haar gekrallt. Samuels Augen, weit aufgerissen, unverständig. Die Kühle an Leifs Seite, als sein eigener Vater ihn wegschob, um Kari und Samuel festzuhalten. Hilflos.
Sein Vater konnte die Lücke an ihrer Seite nicht ausfüllen und doch kam es Leif heute so vor, als hätte er es seitdem stets versucht. Seine Mutter hatte stumm zugesehen, die schlafende Tilda auf dem Arm, fest in ein Tuch gewickelt.
Leif drängte die traurigen Gedanken beiseite und lächelte zaghaft. Es fühlte sich komisch an.
»Schön, dass es ihr gut geht. Seht ihr euch oft?«, fragte Leif.
Er hatte kurz den Eindruck, als würde Sam sich verspannen, doch dessen Stimme klang beiläufig, als er antwortete. »Ja, schon, dann und wann.«
Kühler Wind strich die Bergkuppe hinab und zerzauste Samuels Haare. Eine Gänsehaut kroch über Leifs Rücken und er fröstelte. Auch ein Gähnen konnte er nicht unterdrücken.
»Warum bist du um die Uhrzeit hier draußen?«, fragte Sam.
»Konnte nicht mehr schlafen.«
»Schlecht geträumt?«
Misstrauisch sah Leif sein Gegenüber an. »Scheiß Isomatte und noch schlechteres Kopfkissen.«
Samuel Zähne leuchteten hell im Dämmerlicht auf, als er grinste.
»Ja, da muss man sich dran gewöhnen.«
»Und du?«, fragte Leif.
Samuel blickte in Richtung der aufgehenden Sonne, die ihre ersten Strahlen über die Grate der Berge schickte.
»Ich bin oft früh wach. Brauch nicht so viel Schlaf.«
Ein Lächeln spielte um Samuels Mundwinkel, das Leif nicht verstand. Er zog die Brauen zusammen.
»Komisch. Du warst ein totaler Morgenmuffel, früher«, sagte er und bereute es im selben Moment.
Er hatte die Vergangenheit nicht anschneiden wollen. Und erst recht nicht das Bild heraufbeschwören, das er mit seiner Aussage verknüpfte. Sam. Morgenschön. Und schlecht gelaunt.




Sommer 2003

Es war zu heiß und zu stickig. Sonntagmorgen. Oder Mittag. Träge richtete sich Leif auf und warf einen Blick auf den uralten braunen Radiowecker auf dem Nachttisch. Kurz vor zwölf. Unten im Haus hörte er Kari am Telefon sprechen. Er verstand nicht, was gesagt wurde, der Klang und die Melodie verrieten ihm aber, dass sie Norwegisch sprach. Ein Anruf aus der Heimat also.
Leif strampelte die dünne Decke weg. Sein Kopfkissen war schweißfeucht und er fühlte sich klebrig. Er wollte aufstehen und das Fenster öffnen, damit es wenigstens nicht mehr so stickig im Zimmer war, doch er stockte mitten in der Bewegung, als Sam im Schlaf leise schnaufte.
Er sah zerzaust aus und hatte Schatten unter den Augen. Kein Wunder, immerhin hatten sie gestern bis halb eins bei Timo gezockt. Und Timos Eltern sahen das mit dem Bier nicht so eng. Jedenfalls war Leif nach seinem dritten ganz schön angesäuselt gewesen. Sam hatte nur eins getrunken. Ein etwas schadenfrohes Lächeln huschte über Leifs Züge. Offensichtlich war sein Freund nicht sonderlich trinkfest.
Wie fast jede Nacht in den Ferien hatten sie beieinander übernachtet. Die ausklappbare Gästematratze – ein Relikt aus den siebziger Jahren – war leider nicht gerade bequem. Dennoch hatte er gut geschlafen. Erstaunlich gut sogar für seine Verhältnisse. Verschwommen kitzelte ihn die Erinnerung an irgendeinen Traum, der von der Schule gehandelt hatte, aber er konnte ihn nicht wirklich fassen. Er streckte sich, dann wanderte sein Blick wieder zu Sam. Es war verrückt, wie tief und fest dieser schlafen konnte. Leif hatte die Theorie, dass man unter Samuels Bett Schlachten des zweiten Weltkrieges nachstellen konnte und er nicht wach werden würde.
Immerhin wusste Leif, dass er selbst allzu oft im Schlaf sprach oder mit einem Schrei auf den Lippen aus dem Traum hochfuhr. Manchmal hörte er sich selbst schreien. Kein schöner Laut.
Doch Sam ließ sich von all dem nicht stören und schlief wie ein Toter. Verrückt. Und für das Überleben in einem Internat, in dem man sich die Zimmer teilen musste, wahrscheinlich gar nicht so übel.
Leif genoss es, Sam ungehindert betrachten zu können. Seine Nasenspitze. Seine Mundwinkel. Die geschlossenen Augen mit den dichten Wimpern. Er wusste, dass das schräg war. Und dass er es wohl nicht so genießen sollte. Auch wenn ihm inzwischen dämmerte, warum er es dennoch tat. Seine Träume und Fantasien waren ja eindeutig genug.
Seit dem einen Nachmittag an Weihnachten, als Sam und er sich hier oben gegenseitig einen runtergeholt hatten, beschäftigte Leif die Frage, ob er nur scharf auf Sam war oder ob er generell auf Männer stand. Er hatte seine Freunde und Klassenkameraden unauffällig gemustert, vor allem die Jungs vom Leichtathletik-Team. Und ja, es waren einige dabei, die gut aussahen. Es prickelte anders, wenn er Oliver Burkinsky auf den nackten Bauch blickte, als wenn er eines der Mädels studierte, die kokett die Haare nach hinten warfen und Oberteile anzogen, die bei seinen Kumpels Kurzschlussreaktionen im Hirn verursachten.
Er fand den Gedanken beängstigend, schwul zu sein. Er hatte so ziemlich vor allem Angst in diesem Zusammenhang. Dass es irgendwer merken könnte. Dass seine Freunde es erfahren und sich von ihm abwenden könnten. Er hatte Angst vor der Reaktion seiner Eltern, insbesondere vor seinem Vater. Stellte sich viel zu lebhaft vor, wie sich dessen Gesicht in eine traurige Maske verwandeln würde.
Ich bin enttäuscht von dir, Leif.
Ja, wieder einmal.
Gleichzeitig wollte er auch wissen, wie es wäre... Küssen. Mehr. Anderes. Knutschen. Berühren und fühlen. Und immer, wenn Leif in diesen Träumereien festhing, schob sich ein ganz bestimmter Protagonist in seine Fantasien.
Und das war wirklich furchteinflößend. Leifs Reaktionen auf Sam waren schrecklich und schön zugleich. Er wollte zu ihm kriechen, seine Nase an ihm reiben und seinen Geruch in sich aufsaugen. Gerade so, wie er war. Ungeduscht. Sam-Duft. Jungengeruch. Leif wollte ihn noch mal stöhnen hören – ein betörender Laut.
Was Sam hingegen wollte – Leif hatte keine Ahnung. Er war ihm ein Rätsel. Manchmal legte er vollkommen ungezwungen seinen Arm um Leif, dann wieder schien er jeder Berührung aus dem Weg zu gehen. Außerdem kippte Samuels Stimmung oft schneller, als dass Leif sich in Sicherheit bringen konnte. Dann bekam er eine Ladung beißenden Spotts ab oder einfach nur ungnädiges Gebrummel. Meist konnte Leif das ganz gut wegstecken – immerhin war er es ja seit einigen Jahren gewöhnt. Er wollte auch nicht, dass Sam bemerkte, wenn er ihn mit einer seiner Bemerkungen traf. Er wollte nicht schwach erscheinen. Nicht vor Sam. Gerade nicht vor ihm. Denn wenn Sam den Schmerz in Leifs Augen aufflackern sah, nahm er reißaus. Oder, noch schlimmer, er lächelte ihn an. Scheu und entschuldigend. Und verpasste damit Leif ein Kribbeln im Bauch, das ihn erröten ließ.
»Was starrst du eigentlich so?«
Leif zuckte zusammen und sah in Sams vom Schlaf gerötetes Gesicht. Er musste grinsen, als Sam sich aufrichtete.
»Du hast lustige Kissenmuster im Gesicht.«
»Blödsack«, grummelte Sam und stieg aus dem Bett, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen.
Leif störte sich nicht daran, denn er wusste, dass sein Freund ein ausgesprochener Miesepeter am Morgen war.
Mit zusammengekniffenen Augen stapfte Samuel grob über Leifs Matratze. Fast hätte er ihn getreten, hätte Leif nicht die Füße angezogen und wäre ebenfalls aufgestanden. Er ging zum Fenster und öffnete es weit. Die Luft, die nun ins Zimmer strömte, roch deutlich frischer, war aber fast genauso warm.
Leif lehnte sich etwas aus dem Fenster und warf einen Blick in ihren Garten. Er konnte Tildas Stimme und das Quietschen einer ihrer Freundinnen hören. Das Planschbecken am Fuße der Terrasse, in dem er die beiden Mädchen vermutete, konnte er aber von hier aus nicht sehen.
Schwimmen... ja, das wäre jetzt was. Vorzugsweise in einem kinderpissefreien Pool.
Leif drehte sich zurück zu Samuel und erstarrte, als dieser sein schweißfeuchtes Shirt über den Kopf zog. Dass sein Herz schneller schlug, wenn Samuels Schlüsselbein im ausgeleierten Kragen seines Shirts aufblitzte oder sich ein Streifen blasser glatter Haut zeigte, wenn er sich streckte, war Leif ja inzwischen gewöhnt. Aber das hier war Folter.
Es war ein halbes Jahr her, dass er Samuel ohne Shirt gesehen hatte. Sam war breiter geworden, er hatte die letzten kindlichen Spuren hinter sich gelassen. Unter seiner Kleidung sah er stets etwas mager aus. Wie sich nun herausstellte, war das ein Irrtum. Zäh wäre wohl ein passendes Wort, schoss es Leif durch den Kopf. Schlanke Muskeln zeichneten sich unter der Haut ab, beweglich und fest.
Es waren aber nicht seine tanzenden Hormone, die Leif nach Luft schnappen ließen, als Sam sich zu ihm umdrehte. Es war die rötliche Narbe, die sich auf der Länge einer Handspanne diagonal über seine Rippen erstreckte. Unweigerlich trat Leif näher an Sam heran, hob die Hand, als wollte er über das Narbengewebe streichen. Er zögerte, seine Fingerspitzen schwebten so nah über Samuels Haut, dass er deren Wärme spüren konnte.
»Was ist das?«, fragte er rau.
Sam zuckte mit den Schultern, wich Leifs fragendem Blick jedoch aus.
»Ich hab mich beim Skaten langgemacht und das ist das Andenken des Bordsteins.«
Als Sam von ihm zurücktreten wollte, hielt Leif ihn am Handgelenk zurück. Kritisch beäugte er die Narbe, die ihn mehr an einen Schnitt als an eine üble Schürfwunde erinnerte. Mit einen Ruck machte sich Sam los, schnappte sich ein Handtuch und ging wortlos ins Bad.
Stumpf blickte im Leif hinterher, doch statt der alten Holztüre, hinter der sich der winzige Flur im Schatten verbarg, sah er das morgendliche Licht, das Samuels Rücken erhellte. Es ließ mehrere feine Narben aufschimmern, fast unsichtbar, lange verblasst. Er hatte sie noch nie gesehen.


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